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Mittwoch, 15. April 2015

Wir treiben ein falsches Spiel mit ihnen – erster Teil

Noch nie war es so wichtig wie jetzt deutliche Worte aufs Papier zu bringen, in Blogs und in sozialen Netzwerken. Wir ertragen das katastrophale Spiel, welches mit dem Finger auf den übers Meer kommenden Migranten zeigt, auf den der verzweifelt versucht einen Moment in Frieden zu leben, auf den der seinen Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen will, seit jeher. 

Foto Elisa Romanato
Die Leitung dieses täglichen Massakers, das in den Kriegsgebieten und auf dem Weg durch die Wüste beginnt, in der Hölle Libyens und auf dem Meer  gefräßig nach Körpern  weitergeht, um dann auf unserem Boden zu enden, ist in diesen Tagen erneut zusammengebrochen.
Man kann nicht anders als zu denken, dass es unmöglich scheint, dass ein zivilisiertes Land, welches sich mit Experten rühmt, welches an 365 Tagen im Jahr Ausbildungskurse über Einwanderung und interkulturelles Zusammenleben auf die Beine stellt, nicht im Stande ist ein ernsthaftes und langfristiges Aufnahmeprogramm zu organisieren. Es muss deshalb eine geheime Leitung sein, die tausende und tausende von Toten betrachtet, die es akzeptiert, dass Frauen und Kinder abgeschlachtet und vergewaltigt werden. Eine Leitung, die Waffen verkauft und Instabilität in den Ursprungsländern verursacht, die hungern lässt und Land und Ressourcen raubt. In wessen Namen geschieht das alles? Gemäß den Ländern Europas: im Namen der Sicherheit und Zukunft. 
Foto Elisa Romanato

Ja, wir spielen ein falsches Spiel mit ihnen, wenn wir von Notstand, task force und Aufnahmezentren sprechen. Denn in einem zivilisierten Land ist es nicht möglich, sich nicht an das erinnern zu können, was in den letzten Jahren passiert ist; genauso wenig ist es möglich, dass sich niemand die Frage stellt wie man einschreiten kann, um Menschenleben zu retten; lieber denkt man sich neue Möglichkeiten aus, um Geld zu verschwenden und Arbeitsplätze Freunden und Verwandten zuzuteilen. 

Also sind wir wahrscheinlich kein zivilisiertes Land und wir leben in keinem zivilisierten System. Es gelten die Regeln des Stärksten und des Schlauesten und die Macht kann weiterhin über Jahre die Straße des Notstandes zurücklegen, zumindest bis irgendeine Amtsperson aus der Reihe tanzt und den faulen Kompromiss, das Schmiergeld und den politischen Druck aufdeckt. So wird es noch jahrelang weitergehen, vielleicht bis zur Verjährung! Wer bezahlt für das alles? Beim Aufnahmebusiness bezahlt augenscheinlich der afrikanische oder asiatische Migrant, vielleicht ein Jugendlicher oder eine schwangere Frau. Und so äußert sich die Präfektin von Palermo, Frau Cannizzo angesichts der gestrigen Ankunft von 1200 Personen zufrieden mit der in Gang gesetzten Organisationsmaschinerie. Bürgermeister Orlando zusammen mit dem Assessor für soziale Aktivitäten, Ciulla, teilen ihre Meinung.

Foto Elisa Romanato
Für die Provinz Palermo ist es die erste Ankunft des Jahres. Aber bis heute war keiner der institutionellen Protagonisten im Stande zur rechten Zeit einen Aufnahmeplan vorzubereiten, der seinem Namen würdig ist. Anstelle dessen, wiederholte sich das übliche Szenario: Notstandstische, task force, Hilfsanfragen bei Freiwilligen (die einzigen die ein gesundes Interesse gegenüber menschlichem Leben zeigen). Letztere werden dazu ausgenutzt das System zu retten und legitimieren so unbewusst dessen geheime Leitung. Wir waren erneut bei der Wiedereröffnung einer baufälligen Struktur dabei, bei der Vorbereitung einer Zeltstadt und auch als Turnhallen erneut gefüllt wurden. 

Noch einmal hat sich die Caritas ins Spiel gebracht. Deren Direktor, Don Sergio Mattaliano, tappte das zweite Jahr in Folge in die Falle, indem er sich zum Spiel aufstellte, um die Lücken des Systems zu stopfen. Er hat sicherlich in guter Absicht gehandelt, allerdings stillt dieses Vorgehen weder die Bedürfnisse der Betroffenen, noch erscheint es professionell. 

Dieses Spiel erzeugt Notstand, Misswirtschaft und Kurzschlüsse, außerdem ermöglicht es vielen Haien, ohne ein Mindestmaß an Kenntnis und Kompetenz, den Eintritt in „die Runde“. Die Präfektur vertraut ihnen 100, 200, 500 Migranten an. Oder noch schlimmer, die Gemeinde gibt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in ihre Obhut, welche zu oft wie Kanonenfutter behandelt werden, um dann nach einigen Monaten als Urheber gewaltsamer Proteste im Lokalteil der Presse zu landen. Solche Vorfälle werden dann wiederum auf das Fehlen von grundlegenden Diensten zurückgeführt!

Foto Elisa Romanato
Aber zurück zu den 1200 Migranten in Palermo. Unter ihnen befinden sich viele unbegleitete Minderjährige und ungefähr zehn schwangere Frauen. Ihre Erstversorgung hat um 2 Uhr morgens begonnen und am Vormittag gegen 9 Uhr geendet. Die an der Aktion beteiligten Mitarbeiter standen unter enormem Stress, die Freiwilligen der Caritas waren ununterbrochen auf den Beinen, um den Migranten heißen Tee, eine Decke oder ein Paar Schuhe anzubieten und die Ärzte der Asp* standen für den Bedarfsfall bereit. Darauf begann die Aufteilung der Personen auf verschiedene improvisierte Zentren, nicht geeignete Orte mit meist unzureichender Ausstattung. 

Auch nach dieser Ankunft ist es zur Tour durch Palermo gekommen, bei der sich hunderte Migranten zu den zentralen Stadtvierteln aufmachten oder sich aus Versehen oder weil sie in einer Einrichtung weit entfernt vom Stadtzentrum untergebracht worden waren, in den Außenbezirken verloren. Eine Massenflucht, um dem Schicksal aus Gewalt und psychologischen Übergriffen zu entkommen, die Hoffnungen zerstören und Träume erlöschen lassen. In Italien erwartet sie nicht nur dieses Schicksal sondern für gewöhnlich auch Menschenhändler, Schlepper, skrupellose Leute, die vom Notstand profitieren und bereit sind die Migranten noch weiter in den Norden zu bringen.

Diese Szenen wiederholen sich leider immer und immer wieder, da die Institutionen nicht in der Lage sind einen Aufnahmeplan auszuarbeiten, angemessene Unterkünfte zu suchen, Mitarbeiter auszubilden, usw. Zu identischen Vorfällen wie in Palermo kam es auch in Ragusa, Porto Empedocle, Catania und in Trapani, wohin neun Leichen des hundertsten Unglücks auf See gebracht wurden. In diesen Tagen erreichten uns 8480 Migranten, die meisten von ihnen stammen aus Syrien und aus Subsahara-Afrika. Sie wurden von den Patrouillenbooten der Küstenwache, der Finanzwache und privaten Schiffen gerettet (fünf Handelsschiffe und 2 Schlepper); geborgen von einem Frontex-Schiff, einem maltesischen Schiff und zwei Flugzeugen der Küstenwache. Ja, für einen Moment haben wir sie gerettet, aber bald darauf beginnen wir von neuem ein falsches Spiel mit ihnen zu spielen und sie zu Sklaven unserer Bedürfnisse zu machen. 

Alberto Biondo
Borderline Sicilia 

*ASP – Azienda sanitaria Palermo: Sanitätsbetrieb Palermo

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner