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Donnerstag, 3. September 2015

Geschichten aus Siculiana: Licht und Schatten der Aufnahme im Zentrum für Erstaufnahme „Villa Sikania“*

 „Zeit existiert hier nicht. Man verbringt die Tage mit essen, schlafen und warten; mit der Zeit ist es, als ob es sie gar nicht gäbe.“ Das sind die Worte von A., einem sehr jungen Afrikaner, der uns sagt, dass er gerade am Tag zuvor 18 Jahre alt geworden sei. Wir beglückwünschen ihn mit Verspätung, er lächelt, aber sofort verdunkelt sich sein Blick von neuem. Sein Freund B. hat ein weißes Pflaster in der rechten Armbeuge. „Ich war krank, sie mussten mich vor ein paar Tagen ins Krankenhaus bringen. Hier (ndr, in der Villa Sikania) geben sie keine Medizin aus, überhaupt keine.“ Wir wissen aber, dass es in der Einrichtung eine Krankenschwester gibt. Es gelingt uns nicht, genau zu verstehen, woran B. leidet. Fakt ist, dass ihn ein Mitarbeiter ins Krankenhaus begleitet hat, wo er behandelt wurde.

Wir haben ihn zwei Tage später wiedergesehen. Er hatte schon eine gesündere Gesichtsfarbe und er bestätigte uns, dass es ihm besser gehe. Wir entdecken, dass A. und B. zwei ehemalige Gäste eines der Aufnahmezentren sind, die von der Organisation „Omnia Academy“ verwaltet wurde. Diese Einrichtung hat vor einigen Monaten die Tore geschlossen; sie wurden beschuldigt, eine kriminelle Vereinigung zu sein, zielgerichtet auf falsche Angaben und Betrug. Statt in andere CAS der Gegend verlegt zu werden, sind die Gäste „zurückgestuft“, buchstäblich in der Villa Sikania in Siculiana geparkt worden, eine Einrichtung für die allererste Aufnahme und Unterbringung derjenigen, die von Lampedusa kommen. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung wohnten die Jugendlichen seit zwei Wochen in der Villa Sikania, und hingen in der Luft. „Fast jeden Abend kommen andere Migranten an, aber spätestens ein oder zwei Tage später werden sie woandershin verlegt. Die einzigen, die im Zentrum bleiben, sind wir, diejenigen von Naro. Ein wirklich schlechtes Zentrum, zum Glück gibt es das nicht mehr. Jetzt sind wir hier; jeden Tag sagen sie uns: Warten, warten, immer warten. Wir wissen weder, wo wir am Ende landen werden noch wann das sein wird.“
Wir haben keine Gewissheit über das genaue Alter der Jugendlichen und es ist schwer, es zu schätzen. Viele scheinen aber wirklich sehr jung zu sein, jünger als 18 Jahre. Aber wir möchten denken, dass sie volljährig sind und dass sie aus dem CAS von Omnia kommen und dass sie nicht durch die Maschen der Aufnahme geschlüpft sind, die den Minderjährigen zugedacht ist; auch, wenn die Aussage von A., der uns erzählt hat, dass er während seines Aufenthaltes in der Villa Sikania volljährig geworden sei, anderes vermuten lässt. Wenn es tatsächlich minderjährige unbegleitete Flüchtlinge handelt, wäre das im Hinblick auf die Aufnahme der Minderjährigen und im Blick auf ihre Rechte die zigste schwere Beleidigung, wenn nicht gar eine Bankrotterklärung.

Die Hauptprobleme, von denen uns die Gäste berichten, scheinen das Essen (dürftig, eintönig und von schlechter Qualität) und der Dreck in den Zimmern, besonders in den Bädern zu sein, den sie mit einem angewiderten „pfui!“ kommentieren. Die Zimmer enthalten bis zu drei Stockbetten, haben folglich eine Aufnahmekapazität für maximal sechs Personen. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung sind uns keine Fälle von Überbelegung berichtet worden, auch wenn andere Migranten von ungeheuren Zahlen wie „400, 500, 1000“ Personen sprechen, die im ehemaligen Empfangssaal der Einrichtung zusammengepfercht seien.

Die Geschwindigkeit im Wechsel der Gäste in der Villa Sikania ist augenfällig: An einem Tag sieht man gut hundert Jugendliche aus Subsahara-Afrika auf dem Sportplatz hinter dem Zentrum mit Jugendlichen aus Siculiana Ball spielen; tags drauf ist alles menschenleer, die Fensterläden sind geschlossen, der Parkplatz vor dem Eingang ist halbleer. Wieder einen Tag später sieht man neue Gesichter Richtung Zentrum ziehen, am nächsten Morgen erblickt man zwei, drei, vier Autobusse mit laufendem Motor und Menschen, die entlang des Weges rund um die Einrichtung sitzen, mit ihren wenigen Habseligkeiten in der Hand, die darauf warten einzusteigen und in den Norden verbracht zu werden. Verschiedene Quellen haben uns bestätigt, dass die Verlegungen von Lampedusa, vom CSPA der Casa da Imbriacola, nach Porto Empedocle (AG) jeweils in Gruppen von 100, höchstens 200 Personen stattfinden, fast täglich mit der Linienfähre, außer samstags. Der größte Teil sind Männer, aber immer öfter auch Frauen, Kinder und ganze Familien.

Die Jugendlichen kommen vor allem aus Nigeria, Gambia, Mali, Senegal. Sehr viele Eritreer, die wir oft an der Hauptstraße von Siculiana vor den Telefonzellen sitzend antreffen. Es sind auch einige Männer aus Bangladesch da. Was in der Villa Sikania einigermaßen gut zu funktionieren scheint, ist die Kommunikation zwischen Mitarbeitern und Gästen, die durch tüchtige Mediatoren ermöglicht wird. Wegweisend auch ein Treffen mit zwei eritreischen Jugendlichen, Opfer des unmenschlichen Dublin-Abkommens. Seit 4 Jahren in Europa, sind sie zwischen England und Norwegen gereist, um dann nach Italien zurückgeschickt zu werden; das hat ihnen zum Ausruhen nichts anderes anzubieten als dreckige Straßen und harte Bänke.
„Auf der einen Seite machen mich diese Jugendlichen traurig“, sagt uns plötzlich ein Mann mittleren Alters, mit dem wir uns zwanglos unterhalten. „ Auf der anderen Seite kann man den armen Italienern nicht Unrecht geben, denen das Geld nicht bis zum Monatsende reicht und die sich über sie ärgern. Am Ende erhält ein Migrant 35€ pro Tag, rechnet ihr nach… 1050€ im Monat, selbstverständlich plus Verpflegung und Unterkunft.“ Kurz zusammengefasst: Es ist nicht gerecht, dass die Migranten mit unseren öffentlichen Geldern unterhalten werden, während die armen und „bemitleidenswerten“ Italiener, die es nicht bis zum Monatsende schaffen, sich selbst überlassen werden. Dies ist der zigste fürchterliche Beweis dafür, dass die Salvinianische Rhetorik* (und nicht allein sie) Wurzeln schlägt, ohne dass jemals vorher recherchiert worden wäre. Also erklären wir ihm, dass die Betreibergesellschaft eines Zentrums die 35€ pro Tag  und Person für die Aufnahme / Versorgung der Migranten erhält und dass die Migranten höchsten 2,50€ am Tag erhalten (das macht pro Monat 75€ und nicht 1050€!). Vorausgesetzt, dass sie überhaupt versorgt werden; wir haben zu oft festgestellt, dass die Betreiber sich nicht die Mühe machen, das zu tun! „Ach, das wusste ich nicht; das ist nicht das, was in den Fernsehnachrichten gesagt wird!“ Leider stellt die Verbreitung von falschen Informationen durch die Medien zum Zweck der Propaganda und des Rassismus ein großes Problem dar für die korrekte Einordnung, das Verständnis und die Toleranz gegenüber dem Phänomen der Migration durch den durchschnittlichen Bürger.

Während unseres Aufenthaltes in Siculania treffen wir auch C., einen Jugendlichen aus dem Sudan, der sehr jung aussieht. Mit einigen englischen und arabischen Worten erzählt er uns, dass er alleine von zuhause aufgebrochen sei. Er sei in Lampedusa angelandet, wo er einige Tage verbracht habe, bevor er vor kurzem gemeinsam mit einigen seiner sudanesischen Reisegefährten nach Porto Empedocle verlegt wurde, und folglich in die Villa Sikania. Seine Reisegefährten sind schon woanders hin verlegt worden, während er, so sagen man es ihm in der Aufnahmeeinrichtung, „in Kürze“ nach Mailand verlegt würde. Er möchte zu seinem Bruder in London. „Hier Mailand. Mailand, Frankreich, Calais, England“, sagt er uns, eine Art Erklärung. Wir müssen an die Bilder aus den Fernsehnachrichten denken, an die Barrikaden, an die Menschen auf den Lastwagen, an die Worte David Cameron’s. Uns zieht sich der Magen zusammen, aber wir sagen nichts. Er sieht uns mit diesem entspannten und offenen Gesicht an, diesen lebhaften Augen, manchmal ein wenig traurig, aber jetzt voll Leben und Hoffnung in Gedanken an seinen Bruder. Wir hatten ihm sagen wollen, dass es gefährlich ist, ihn fragen wollen, ob er sich sicher sei, ob es nicht vielleicht eine andere Möglichkeit gäbe. Aber dann denken wir noch einmal darüber nach. Dieser Jugendliche hat die Wüste durchquert, hat die libyschen Gefängnisse überlebt, wo ihm sein ganzes Geld geklaut wurde, und hat es geschafft, heil in Italien anzukommen. Es gibt keine Gefahr, die Menschen wie er jetzt noch fürchten. Zwei Tage später wird er verlegt, und wie für alle anderen beten wir, dass es ihm gelingt, sein Ziel zu erreichen.

Caterina Bottinelli
Borderline Sicilia Onlus

*Villa Sikania, ein ehemaliges Hotel
*Rhetorik des Matteo Salvini, Europaabgeordneter und Sekretär der Lega Nord
(Z.B. fragt er die Befürworter der Migration: „Wie viele Migranten nimmst Du mit nach Hause?“ Die Gegenfrage bleibt unbeantwortet: „Und Du, wie viele Italiener in Schwierigkeiten nimmst Du mit nach Hause?“)
Quelle: https://luciogiordano.wordpress.com/2015/06/20/la-retorica-salviniana-una-domanda-per-ogni-occasione/

Aus dem Italienischen von Rainer Grüber