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Dienstag, 20. Oktober 2015

Das Spezialaufnahmezentrum für Jugendliche von Mazara del Vallo: Sollte man es wirklich als solches bezeichnen?

Das Erstaufnahmezentrum für Jugendliche, welches sich im ehemaligen Hotel Conte Ruggero II befindet, wird seit vergangenem Juni von der Kooperative Fiori di Pesco geleitet. Zugelassen ist es als Zentrum höchster Spezialisierung für die unmittelbare Erstaufnahme, gemäß der Regionalverordnung des 25. Mai, was positiv seitens der Gemeinde von Mazara del Vallo vermerkt wurde.
„Fiori del Pasco“ ist eine der vielen Kooperativen, welche eigens für die Umstrukturierung von Hotelanlagen, wie die des vier Sterne Hotels Conte Ruggero II, in Aufnahmezentren ins Leben gerufen wurden. Laut diverser Stimmen innerhalb der Gemeinde und der Lokalpresse gehören der Verwaltung dieser Kooperative auf direkte oder indirekte Weise Personen an, die bereits andere Erstaufnahmezentren in der Provinz leiten.

Zur Zeit befinden sich 60 Jugendliche in diesem Zentrum, welche vorwiegend aus Gambia, Mali, Nigeria und dem Senegal stammen und zum Großteil im Zeitraum von Juni bis Juli diesen Jahres angekommen sind. Ihre Durchschnittsaufenthaltszeit im Zentrum überschreitet folglich die drei Monate, welche für eine Übersiedlung in ein SPRAR-Projekt* vorgesehen sind.
Es war nicht einfach, das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen, die ich im Innenhof angetroffen habe und sie dazu zu bewegen mir zu erzählen, weshalb sie am 25. September die angrenzende Straße Richtung Zentrum blockiert haben, im gemeinsamen Protest gegen lange Wartezeiten bei der Prüfung ihrer Anträge, fehlende Kleidung und einen schlechten Umgang.

Nur nachdem ich ihnen eine umfassende Darstellung meiner Person und des Vereins Borderline Sicilia sowie detaillierte Informationen in Bezug auf das Asylverfahren gegeben hatte, ist es mir gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen und ihren Erzählungen zu lauschen. So habe ich erst am Ende unserer Begegnung herausgefunden, dass es nachvollziehbare Gründe für ihren Widerstand gab.
Das erste große Anliegen, von welchem sie mir berichten, bezieht sich auf den Besitz von Dokumenten: Sie sagen mir, dass keiner von ihnen eine zeitlich-begrenzte Aufenthaltsgenehmigung hat. Ich frage sie, ob sie das C3-Formular ausgefüllt haben und erkläre ihnen, um was es sich handelt. Keiner von ihnen scheint ein Problem damit zu haben, meine Frage zu verneinen und sie fügen hinzu nur für die Identifizierung ins Polizeipräsidium gebracht worden zu sein.
Es wird deutlich, dass sie keine Vorstellung haben wie das Verfahren der Asylbeantragung funktioniert und als ich sie frage, ob ein Treffen mit einen Rechtsberater stattgefunden hat, berichten sie mir, dass sie einen Anwalt getroffen hätten, welcher nur einmal im Zentrum erschienen sei. Dieser habe ihnen ausschließlich Informationen zur Einrichtung gegeben und habe darauf hingewiesen, dass ihr Aufenthalt hier aufgrund ihrer „Notfallfunktion“ nur zeitlich begrenzt sei.
Natürlich haben sie angefangen mich zu fragen, warum sie noch dort seien und erzählen mir, dass wenn sie versuchen würden Informationen von den Angestellten zu erhalten, Dokumente einzufordern oder nach Taschengeld zu fragen (welches nur aufgrund ihrer Proteste von monatlich 30 Euro über 40, auf schließlich 50 Euro erhöht wurde) man ihnen antworte, dass wenn sie Probleme hätten, das Zentrum dafür sorgen würde, sie zurück nach Afrika zu schicken oder man sie der Regionalbehörde melden würde um eine Ablehnung ihrer Asylanträge zu erwirken.
Leider sind diese Art der Drohungen keine Neuigkeit innerhalb dieser Zentren in welchen man versucht die Ordnung mit Psychoterror zu bewahren, aber in diesem Falle, vorausgesetzt die Aussagen der Jugendlichen bewahrheiten sich, ginge es in Richtung einer verwerflichen Einschüchterung.
Alle Anwesenden bestätigen mir diese Aussage, bekräftigend nochmals dass sie jedes Mal eine hässliche Antwort erhalten, wenn sie ein Anliegen vortragen und es schwarz auf weiß haben wollen, ob sie tatsächlich nach Afrika zurückgesendet werden können.
Dann erzählen sie mir von der Schule. Sie wissen, dass diese für sie wichtig ist und sagen mir, dass es keinen internen Kurs gibt, sie aber wohl alle in einem Abendkurs für Italienisch in Mazara 2 eingetragen seien, welcher von einem Professionellen Regionalzentrum organisiert wird. Hier hielten sie sich jeden Tag von 15 bis 19 Uhr auf. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass dieses Gebiet, welches sich circa 4 Kilometer vom ex-Hotel Ruggero befindet, seit Jahren eine Hochburg von Drogenhandel und Lokalkriminalität ist.

Die Jugendlichen beklagen die schlechte Qualität der Kleidung und des Essens sowie ablaufende Hygieneprodukte. Einer von ihnen zeigt mir einen Ausschlag am Rücken und erzählt mir, dass drei weitere Jugendliche das selbe Problem haben. Er ist überzeugt, dass  dies auf die Seife zurückzuführen ist und als ich ihn frage, ob er jemandem von seinem Problem berichtet habe, sagt er, dass es sowieso keinen Sinn habe. Ich frage also nach einer Einschätzung bezüglich der gesundheitlichen Leistungen und sie erzählen mir, dass sie zum Arzt begleitet werden, die Angestellten aber nur sehr langsam reagieren würden, wenn sie auf ein Problem hinweisen. Sie erzählen mir, dass ein Freund seit acht Tagen aufgrund einer Magenoperation in einem Krankenhaus ist und keiner der Angestellten ihn bisher besucht habe. An diesem Punkt erreicht uns die Erzieherin, welche sich zugleich einmischt, das soeben Gesagte abstreitet und einen der Jugendlichen anschreit, dass dies nicht wahr sei und er nichts wisse. Der Junge ruft daraufhin den Freund, der sich im Krankenhaus befindet an, welcher mit Lautsprecher die Aussage seines Freundes bestätigt und darum bittet, mit mir zu sprechen, um mir zu berichten, dass er tagelang mit niemandem kommunizieren könne, noch nicht mal mit den Krankenschwestern.
An diesem Punkt stößt auch die Sozialarbeiterin dazu, welche behauptet, den betreffenden Jugendlichen am Tag zuvor im Krankenhaus besucht zu haben und ihm sogar Wechselkleidung mitgebracht zu haben. Es erreichen uns schließlich der Vorstand und der Vermittler, die mir signalisieren, sie aufzusuchen, sobald ich meine Unterhaltung mit den Jugendlichen beendet habe.

Im Laufe des letzten Teils dieser Unterhaltung habe ich von zwei weiteren besonderen Fällen erfahren: Es gibt einen Jugendlichen, der bereits vor 14 Monaten in Italien angekommen ist und der nach einem Jahr Aufenthalt in der Wohngemeinschaft „San Francesco“ in Agrigent, nach deren Schließung für einen Monat in ein sizilianisches Zentrum umgesiedelt worden war, bevor er hier her kam. Folglich befindet sich dieser Junge 14 Monaten nach seiner Ankunft immer noch im Erstaufnahmesystem. Ich frage ihn, ob man ihm erklärt habe, warum er so oft umziehen müsse und er berichtet mir, dass ihm nie irgendetwas erklärt worden sei und er momentan nicht wisse wie lange er noch auf seinen nächsten Umzug warten müsse.

Ich finde anschließend einen weiteren Jungen, welcher etwas jünger als der Durchschnitt der im Zentrum lebenden Jugendlichen erscheint, aber ich schaffe es nur seine Herkunft zu ermitteln. Er ist aus Eritrea und spricht kein Englisch und es sind die anderen Jugendlichen, die mir erklären dass er mit niemandem kommuniziert, weil er keine der üblichen Sprachen spricht. Es versteht ihn keiner und insofern bleibt er isoliert.
Ich verlasse die Jugendlichen und gehe zum Koordinator, welcher sich mir gegenüber sehr hilfsbereit zeigt und gleichzeitig eine große Unübersichtlichkeit bezüglich der Koordinierung des Zentrums sowie der Asylantrags-Prozeduren an den Tag legt. Als ich ihn nach Erklärungen bezüglich der C3-Ausfüllungen frage, weist er auf die Präfektur hin. Als ich ihn darauf aufmerksam mache, dass es sich um eine Aufgabe der Polizeibehörde handelt, frage ich ihn, warum noch keiner der Jugendlichen einen entsprechenden Antrag ausgefüllt hat. Er sagt mir, dass er diesen nicht kennen würde und dass ich diesbezüglich mit dem Sozialassistenten sprechen solle. (Was ich gern tun würde, aber dieser ist bereits nach Hause gegangen. Ich lasse alle Kontaktdaten meiner Person und des Vereins dort, signalisierend, dass ich bereit bin wieder zu kommen, aber bis heute habe ich noch keinen Rückruf erhalten).
Er bietet mir an, die Anlage zu besichtigen, welche aufgrund der Tatsache, dass es sich um ein vier Sterne Hotel handelt, einen schönen und sauberen Eindruck macht. Er bringt mich in den Gemeinschaftraum und in die Mensa wo die Speisen eingenommen werden, welche von der internen Küche zubereitet werden.
Wir gehen in die Küche, wo gerade gearbeitet wird. Auch diese erscheint sehr sauber und neben zwei Angestellten finde ich dort auch einen der jungen Gäste, welcher beim Kochen hilft. Sie sagen mir, dass es sich um einen Freiwilligen handele und dass er bei der Essensvorbereitung helfe. Ich habe keine Gelegenheit näher mit ihm zu sprechen. Das Tagesmenü beinhaltet Reis mit Hühnchen und Kartoffeln und die Portionen sind umfangreich. Die Jugendlichen hatten die Qualität des Essens bemängelt, welches zu oft Pasta beinhalte, die ihnen aber nicht schmecke, schwer verdaulich sei und oft nicht ausreichend sättigend.

Ich spreche den Koordinator auf die Drohungen bezüglich der Rücksendung nach Afrika und die Bestechung der Entscheidungsbehörden an, von welcher mir viele der Jugendlichen berichtet haben. Er streitet ab, dass einer der Angestellten sich einer solchen Praxis bedient habe und versichert mir, zu verifizieren, ob eine solches Verhalten üblich unter den Angestellten sei und im Falle dafür zu sorgen, dass dies nicht mehr vorkomme.
Als ich den Protest anspreche, sagt er mir, dass es nur fünf Jugendliche seien, die diesen vorantragen würden. Als ich darauf hinweise, dass die Polizei eingeschritten ist, gibt er zu, dass es eigentlich 30 Jugendliche gewesen seien, dass er aber den Eindruck habe, dass nur fünf von ihnen wirklich überzeugt seien. Er gibt zu, dass er selbst die Polizei gerufen habe und bestätigt den Mangel des Dienstes für sprachliche und kulturelle Vermittlung, welcher von einer einzigen Person übernommen wird, welche nur wenig Vertrauen seitens der Jugendlichen genießt.

Neben dem Koordinator besteht das Team aus einem Sozialarbeiter, zwei Erziehrinnen, einem Mediator für Sprache und Kultur, dem Küchen- und Reinigungspersonal sowie der Hausmeisterei. Eine sehr spärlich besetzte Gruppe angesichts der Tatsache, dass sie sich um 60 Minderjährige kümmern muss, zudem fehlen Psychologen und Rechtsberater.
Ich weise auf den Fall des eritreischen Jungen hin, mit welchem ich nicht kommunizieren konnte und erfrage wie mit dieser Situation umgegangen wird. Er versichert mir, dass der Vermittler, welcher selbst aus Gambia stamme und Englisch, Bambara und Mandinga spreche, den Jungen mehr oder weniger verstehe. Das Fehlen einer angemessen Sprach- und Kulturbetreuung für diesen Jungen führt nicht nur dazu, dass er nur schwer mit anderen in Kontakt treten kann, sondern könnte sich auch negativ auf die Protokollaufnahme seines Asylantrags auswirken.

Ich frage den Koordinator anschließend nach Informationen im Bezug auf Integration und er sagt mir, dass man gerade ein Fußballspiel organisiert habe und berichtet von einem Fitnessstudio mit Geräten, das er mir zuvor gezeigt hatte. Er fügt hinzu, dass das Team von „Save the Children“, welches sich seit zwei Monaten im Stadtzentrum aufhält, ihn kürzlich kontaktiert habe, um ihm einen Extrakurs innerhalb des Zentrums vorzuschlagen.
Es erweckt nicht wenig Erstaunen, dass in einem Zentrum, welches noch immer den grundlegenden Verpflichtungen zum Schutz seiner jungen Gäste nicht nachgekommen ist, die nach Monaten noch immer auf die Protokollierung ihres Asylantrags und den Umzug in ein SPAR* warten, extra-Projekte angeboten werden, auch wenn deren Art nicht näher erläutert wird.

*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Flüchtlinge dienen.

Aus dem Italienischen von Giulia Coda