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Sonntag, 1. November 2015

Besuch im außerordentlichen Aufnahmezentrum von Modica, „Villa Tedeschi“


Foto: Lucia Borghi
Am 29. Oktober haben wir das in der „Villa Tedeschi“ untergebrachte außerordentliche Aufnahmezentrum von Modica besucht. Dieses ist, wie durch die Ausschreibung der Präfektur festgelegt, unter der Führung der Genossenschaft „La Sorgente“. Die Genossenschaft leitet noch zwei weitere außerordentliche Aufnahmezentren in den Ortschaften Cava d'Aliga und Chiaramonte Gulfi, in denen ausschließlich männliche, volljährige Migranten untergebracht sind. In der „Villa Tedeschi“ hingegen befinden sich zur Zeit 20 Personen, sechs Frauen und 14 Männer. Die gemeinsame Unterbringung von Frauen und Männern in dieser Struktur scheint vor allem auf ihre günstige Lage zurückzuführen zu sein. Die Einrichtung befindet sich zwar auf einem ehemaligen Gutshof außerhalb der Stadt, das Krankenhaus von Modica ist von hier aus jedoch einfach zu erreichen. Das Zentrum ist somit eine geeignete Unterkunft für die vielen jungen Schwangeren, die im Hafen von Pozzallo ankommen und von hier aus kontinuierlich medizinisch betreut werden können.

Das Gebäude des außerordentlichen Aufnahmezentrums „Villa Tedeschi“ ist sehr groß und verfügt über mehrere Gemeinschaftsräume, darunter ein Fernsehraum, ein Speisesaal, ein Aufenthaltsraum und eine Wäscherei. Zudem stehen den Bewohnern große Außenflächen zur Verfügung, wie zum Beispiel der Gemüsegarten. Es gibt sieben geräumige Schlafzimmer mit jeweils drei Betten und eigenem Badezimmer. Einige Zimmer haben auch einen kleinen Balkon. Als ich mich dem Gebäude nähere, bemerke ich sofort die vielen Fahrräder, die die Bewohner nutzen, um in die Stadt zu fahren. Die große Stille wird nur vom Summen eines Radios und von den eingeschalteten Fernsehgeräten gestört. Ich werde von der Koordinatorin und etwas später von einer Mitarbeiterin begrüßt. Die Verantwortliche des Zentrums schildert mir die Situation. In diesem außerordentlichen Aufnahmezentrum arbeiten vier Mitarbeiter, ein Koch und eine Reinigungskraft. Der Koch kam selbst vor einigen Jahren als Asylantragsteller in ein Zentrum der  Genossenschaft, jetzt ist er regulär angestellt und wohnt in der Struktur. Die vier Mitarbeiter sprechen entweder Englisch oder Französisch oder beides, wie die Koordinatorin selbst, die auch Beraterin ist. Für die juristische Beratung stehen den Gästen drei Anwälte zur Verfügung, die mit dem Zentrum zusammenarbeiten, während sich die Teams von Msf (Ärzte ohne Grenzen) und Medu um die psychologische Unterstützung der Bewohner kümmern, sowie um die ärztlichen Attests für die Asylkommission, falls nötig. Die Migranten, die zur Zeit im Zentrum untergebracht sind befinden sich in sehr unterschiedlichen Situationen und kommen hauptsächlich aus Mali, der Elfenbeinküste, dem Senegal aber auch aus Nigeria und Gambia. Eine junge Frau ist marokkanischer Herkunft. Zwei der Bewohner sind seit gut zwei Jahren im Zentrum und warten im Moment auf den Abschluss ihrer Berufungsverfahren, die auf die Ablehnung ihrer Asylanfragen folgten. Der Großteil der übrigen Insassen hatte vor kurzem die Anhörung bei der Kommission oder sie warten auf die Anhörung. Die letzten Neuankünfte zogen im August diesen Jahres ein und wer beispielsweise im Juli ins Zentrum kam, bekam einen Anhörungstermin im November. Begrenzte Wartezeiten im Vergleich zu anderen außerordentlichen Aufnahmezentren. Die Koordinatorin berichtet, „sobald ein neuer Gast einzieht setzten wir uns mit dem Polizeipräsidium und der Präfektur in Verbindung, um die Identifikation zu vervollständigen und das Formular C3 auszufüllen. Im Schnitt einen Monat später bekommen die Personen die Personalbescheinigung, mit der wir gleich für die Steuernummer und den Sanitätsausweis anfragen. Alle Bewohner haben einen Hausarzt, zu dem sich in der Zwischenzeit ein höchst vertrauenswürdiges Verhältnis entwickelt hat und mit dem wir gut zusammenarbeiten.“ In der Struktur befindet sich zur Zeit eine junge Schwangere, für die bereits nach einer geeigneten Unterbringung gesucht wird. Währenddessen erhält sie, dank der Bereitschaft der Ärzte und der gegenseitigen Wertschätzung, alle nötigen medizinischen Kontrollen. Auch der Kontakt zu den Italienischlehrern der Gegend ist gut, „Normalerweise wird zweimal wöchentlich ein Italienischkurs abgehalten, aber in diesem Jahr haben sich die Lehrer einer nahegelegenen Schule dazu bereiterklärt, den Unterricht direkt hier abzuhalten und in Kürze beginnen ein Alphabetisierungskurs sowie ein Sprachkurs für Fortgeschrittene bei dem die Teilnehmer das Level 2 erreichen, mit dem sie den Mittelschulabschluss machen können,“ so die Koordinatorin. „Im bescheidenen Rahmen und mit sehr viel Mühe versuchen wir den Migranten verschiedene Aktivitäten nahe zu legen, die natürlich ihre Integration unterstützen, wie zum Beispiel das Erlernen der Sprache, auch wenn nicht alle den Italienischkurs besuchen wollen. Sofern möglich, beteiligen wir uns auch an lokalen Veranstaltungen, wie zum Beispiel an Projekten organisiert von Legambiente oder Musikabende und Feste. Wir würden gern mehr machen, aber unsere Ressourcen sind beschränkt, auch weil wir ein außerordentlichen Aufnahmezentrum sind. Wir müssen uns um sehr viel kümmern, weil wir den Schutz jeder einzelnen Person garantieren wollen und uns täglich mit jedem Bewohner auseinandersetzten. Gleichzeitig ist es für uns unumgänglich den Bewohnern ihre Privatsphäre zu gewähren.“ Im Abstand von zehn Tagen wird ihnen das Taschengeld in bar ausgezahlt, 2,50 Euro pro Tag. Dies wird in Kürze auf Bestimmung der Präfektur abgeändert und künftig nur noch im 15 Tage Rhythmus an festgelegten Daten ausgeteilt. Einige Bewohner tauchen auf und verlangen nach Aufmerksamkeit, einige gehen draußen umher und wieder andere reparieren die Fahrräder. Eine junge Nigerianerin kommt auf mich zu, sie zeigt mir ihr Zimmer und erzählt mir von ihrem Alltag hier im Zentrum: „Ich bin seit sechs Monaten hier und es geht mir gut. Am Nachmittag, gehe ich auch gern nach Modica, für einen Stadtspaziergang. Das einzige Negative, die Zeit vergeht nicht und ich habe hier noch keine Freundschaften geschlossen und in meinem Heimatland will ich zu niemanden mehr Kontakt haben.“ „Zu Beginn denkt man nur an die Papiere und die Zeit will nicht vergehen,“ bestätigt mir auch der Koch, der zuerst in einer anderen Einrichtung, geleitet von der selben Organisation wohnte. „Ich habe mich sofort dazu bereit erklärt dem Küchenpersonal zu helfen, auch deshalb, da ich verstanden hatte, dass das zubereitete Essen den Gästen nicht gut schmeckte, wir waren nicht an italienisches Essen gewohnt. Die Arbeit in der Küche hat es mir erlaubt, nicht ständig nur an meine Papiere zu denken und dann hatte ich Glück, dass sie hier noch einen Koch brauchten und mich auswählten.“ In der Küche hängt das sehr abwechslungsreiche und ausgewogene Wochenmenü, welches der Koch mit den Gästen abspricht. Ich weiß, dass ich als Koch eine gute Arbeit haben kann und deshalb möchte ich mich ausbilden und weitere Kurse besuchen. So lerne ich auch neue Leute kennen.“ Der Wunsch nach lokalen Kontakten ist allgegenwärtig auch bei den Gästen die ich im Fernsehsaal treffe. B., der vor kurzem von der Ablehnung seines Asylantrags erfahren hat, vertraut mir an, dass er sich schämt Italienisch zu sprechen. „Ich kann verstehen aber nicht gut sprechen, deshalb bin ich still. Das Problem ist, dass ich keine italienischen Freunde habe, sonst würde ich es schaffen die Sprache zu lernen. Mittlerweile suchen sie einen Anwalt für mich und ich weis, dass ich in Berufung gehen kann, um in Italien zu bleiben und wegen der Dokumente. Trotzdem mache ich mir Sorgen, solange ich nicht mit den Italienern spreche, kann ich hier sein oder irgendwo anders, es würde nichts ändern.“ Vor einigen Monaten hat B. zusammen mit anderen Männern an einem abendlichen Musikfest  (Arte Migrante, organisiert vom literarischen Café Hemingway), teilgenommen. Bei diesem Anlass hat ihm jemand eine Gitarre geschenkt auf der er jetzt oft spielt. „Solche Ereignisse sind schön, denn ich suche den Kontakt zu den Leuten, aber auch die Einheimischen müssen den Kontakt zu uns suchen, wie es einige machen, ansonsten können wir nicht zusammen kommen,“ kommentiert einer seiner Freunde. „Ich weiß, dass es Zeit braucht, aber man sollte zumindest damit anfangen.“ Aber wie viele, möchte man fragen, verstehen die Dringlichkeit und haben den Willen dazu? Wie viele Jahre müssen noch vergehen bis man bemerkt, dass die Aufnahmepraxis oder jene Praxis, mit der viele Zehnter Papier gefüllt und ebenso viele Millionen Euro verrechnen werden, lediglich aus Wörtern besteht, solange sie nicht die Rechte garantiert und das tägliche Zusammenleben fördert.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner