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Donnerstag, 12. November 2015

Lieber alt sein

In der vergangen Woche sind wir in der Region um Agrigento gewesen, um die Gäste des CAS* in Canciattì zu treffen. Als wir in dem Ort ankamen, bemerkten wir die sehr große Struktur sofort. Das IPAB** „Burgio Corsello“ ist in zwei Bereiche unterteilt: einer ist für ältere Menschen und ist seit langem aktiv, während ein weiterer Flügel den Migranten zur Verfügung gestellt wird. Dort sind momentan 35 Männer, zwischen 20 und 30 Jahren, untergebracht. Sie kommen vorwiegend aus Nigeria. Sie sind vor ca. 2 Jahren in Canicattì angekommen. 

Uns fällt sofort die Differenz zwischen der einen und der anderen Abteilung auf: die für die älteren Menschen ist neu und gut instand, die der Migranten ist baufällig, teilweise in Restauration und viel viel feuchter. Beide Bereiche haben eigenständige Eingänge und sind durch eine Tür verbunden, die verschlossen ist und nur von Mitarbeitern benutzt werden kann. Unser erster Eindruck ist nicht sehr positiv gewesen. Wir wurden von der Psychologin des IPAB** begleitet, die ihr Büro in der Abteilung des Altersheimes hat (ebenso wie der Direktor). Um die Schlüssel zum Bereich der Migranten zu finden brauchte sie ein wenig Zeit ein Zeichen dafür, dass das Besuchen des Bereiches, indem das CAS* untergebracht ist, nicht sehr häufig erfolgt.
Im CAS* war lediglich eine Mitarbeiterin anwesend, die für die Küche zuständig ist. Sie hat uns im Fernsehzimmer Platz nehmen lassen, wo wir Eindrücke mit den Migranten austauschen konnten. Wir haben ihnen den Grund unseres Besuches erklärt und in einem höflichen Klima haben wir ihren Gesuchen zugehört: „Wir kommen hier noch um, wir können nicht mehr!!“. Wie in den meisten CAS* auf Sizilien ist das Hauptproblem das Fehlen der Dokumente der Untergebrachten und das langsame Tempo in dem die zuständige regionale Kommission die Asylanträge bearbeitet. Sehr lange Wartezeiten, die jenen die aus Kontexten kommen, wo diese Bürokratie nicht existiert, meist nicht erklärt werden können. Und wenn die Verwaltung sich nicht organisiert und den „Gästen“ erklärt und wieder erklärt wie es in Italien funktioniert, wird die Wartezeit zerreißend und besonders die psychologischen Probleme sind enorm.
Junge Männer, die arbeiten wollen, die die Möglichkeit haben wollen ihre Familien, die sie zurückgelassen haben und die in sie investiert haben, zu unterstützen, junge Männer, die von diesem System vergessen wurden, das nur daran denkt sich die Machtlosigkeit der Migranten zu Nutze zu machen.  Zahlreich sind die Beschwerden bezüglich der Dokumente, die nicht ankommen, viele Probleme gibt es mit der regionalen Kommission von Agrigento, zahlreich sind auch die Probleme der Polizeidirektion in Zusammenhang mit den Bekanntgebungen der Maßnahmen. Das führt zu Unmut und Spannungen mit den Betreibern der Einrichtung, aber vor allem führt es zum Vertrauensverlust auf Seiten der Migranten gegenüber den Mitarbeitern. Es reicht daran zu denken, dass viele von denen, die eine Ablehnung auf ihren Antrag auf internationalen Schutz bekommen haben, sich nicht den Anwälten anvertrauen, die für das Zentrum arbeiten, sondern es vorziehen unbekannte Anwälte in Agrigento zu konsultieren, da die Anwälte des Zentrums nicht häufig da seien und schlecht vorbereitet seien.
Aus unserem Gespräch geht hervor, dass ein großer Teil der jungen Männer im August 2015 von der Kommission angehört wurden; von ihnen haben alle eine Entscheidung mitgeteilt bekommen, ausgenommen von drei Migranten, die trotzdem sie weiter nachfragen, immer noch keine Antwort erhalten haben. Ein Kurzschluss zwischen der Kommission, der Polizeidirektion und der Verwaltung der Einrichtung? Das einzige, was sicher ist, ist dass die Jungen warten, aber sie können es kaum abwarten Canicattì hinter sich zu lassen, um 'wo anders' hinzugehen, raus aus diesem Ort, der sie schon viel zu lange festhält.
Die Beschwerden der Migranten bezogen sich auf alles, außer auf die Ausgabe des Taschengeldes, welches sehr pünktlich von der Verwaltung ausgehändigt wird. Wahrscheinlich ist dies der Grund dafür, dass es weniger Proteste gibt als in anderen Zentren mit ähnlichen Bedingungen.
Zu erwähnen bleibt das unzureichende Essen, das am Abend ausgeteilt wird (mittags koche ein Mitarbeiter, während zum Abendessen die Speisen kalt seien, auch weil die älteren Menschen nebenan früh essen und so sind die jungen Migranten gezwungen wären, sich das Essen aufzuwärmen), die Kleidung (da es keinen Kleidungsservice für die Insassen gibt, müssen sie sich selbst darum kümmern etwas zum anziehen zu finden – nachdem ein einziger Austausch von Kleidung kurz nach der Ankunft in der Einrichtung statt fand), die ungeheizten und feuchten Zimmer und dass es keinen Wechsel der Bettwäsche gibt. Die größte Klage betrifft das Gefühl, dass sich die jungen Migranten von der Geschäftsführung allein gelassen fühlen: nur „die Mama“ (die Mitarbeiterin, die wir in der Küche getroffen haben) nehme sich ihrer an, während die anderen Mitarbeiter fast nie da seien und nur gerufen würden, wenn es Probleme in der Unterkunft gibt. Nachdem das Gespräch mit den Migranten beendet war, haben wir den Direktor und die Psychologin getroffen, die uns die Probleme bezüglich des langen Prozess bis zur Aushändigung der Dokumente bestätigt haben, was sich auch auf die Beziehung zu den Migranten nachteilig auswirkt.
Als wir die Abwesenheit von Mitarbeitern in der Einrichtung anführen, wird uns geantwortet, dass das IPAB** 24h lang Mitarbeiter für die Migranten zur Verfügung stelle, die bei Bedarf wissen an wen man sich gewendet werden kann. Der Direktor bestätigt, dass Trinkwasser aus einem Automaten sowohl im Bereich für die Älteren als auch in dem der Migranten zur Verfügung stehe und dass die Bettwäsche auf Anfrage gewechselt werden könne (es gibt Waschtage), hingegen sei es schwierig zu kommunizieren!
Das Problem der Kommunikation mit den Migranten, das mit der Anwesenheit eines kulturellen Mediatoren behoben wäre, könnte auch die Beziehungen verbessern, das wurde auch von der Psychologin bestätigt. Sie bestätigt uns auch, dass sie noch nie eine Sitzung mit den Migranten hatte, weil sie ihre Sprache nicht kennt und die Jungen nicht versteht. Außerdem sei momentan der Personalbestand sehr niedrig, da viele Mitarbeiter krank sind, was den Direktor zwingt die Arbeitsaufgaben auf den gerade abwesenden Sozialassistenten zu übertragen.
Alles in allem immer die gleiche Geschichte, immer die gleichen Dynamiken in den CAS*, wo das sich das Motto „maximaler Gewinn mit minimalem Einsatz“ anscheinend weiter hält, vor allem in Einrichtungen wie den IPAB** oder ex-IPAB**, in denen eigentlich schon ein Stellenplan besteht. Man macht sich nicht einmal die Mühe notwendige professionelle Mitarbeiter einzusetzen. Zum Glück stoßen wir hier und da auch auf gute Umsetzungen, was uns Hoffnung gibt und bestätigt, dass eine zumindest menschenwürdigere Arbeit möglich ist.


Es handelt sich um das CAS* von San Giuseppe Iato, geführt von der Genossenschaft la Fenice (die gleiche wie im CAS* von Piana degli Albanesi), die in Begleitung eines Abgesandten der Präfektur von Palermo besucht wurde, die beschlossen hat, unsere Arbeit in diesem Feld zu bestätigen. Auch in dieser Einrichtungen haben wir, unserer Gewohnheit folgend, den Bewohnern zugehört. Wie in allen Zentren beschweren sie sich über die Langwierigkeiten der Bürokratie und über die Unmöglichkeit zu arbeiten, aber zu unserer Überraschung sind sie seit ihrer Ankunft im Juli 2014, also seit der Eröffnung des Zentrums, einstimmig zufrieden mit der Arbeit der Mitarbeiter. Das ist eines der wenigen Male, dass uns von einem vertrauensvollem Umgang zwischen Migranten und Mitarbeitern berichtet wird. Und trotz der Ankündigung unseres Besuches und dem Beisein des Präfekten scheint das ehrlich gemeint. Die Einstellung der Mitarbeiter gegenüber den Migranten ist von Respekt geprägt, sie werden hier einfach wie Personen behandelt, die durch die Hölle gegangen sind und die noch heute unter einer ungerechten Gesetzgebung leiden, die ihre Zukunft verbaut. Wir haben Mitarbeiter gesehen, die die Jungen anlächeln, wenn sie ihnen in den Fluren begegnen. Mitarbeiter die sich mit Natürlichkeit an uns gewendet haben, um uns zu fragen, ob sie uns helfen können die bürokratische Situation zu überprüfen.
Von den 62 anwesenden Personen haben ungefähr 85% einen negativen Bescheid auf den Antrag auf internationalen Schutz von der Kommission erhalten; der Anwalt des Zentrums hat bereits die Widersprüche eingelegt; die Jungen werden psychologisch und sprachlich/kulturell unterstützt. Die Geschäftsleitung hat ein höfliches und gemeinschaftliches Klima im Gastland geschaffen und befördert Initiativen um die Jungen kennenzulernen und sie zum Interagieren in der Umgebung zu animieren.
Eine gute Praxis, die, wie uns eine junge Mitarbeiterin des Zentrums sagt, aus einer Grundvoraussetzung entsteht: „Wir müssen lernen mit ihnen zusammenzuleben, sie sind ja keine Neugeborenen, sie können unsere Kultur nur kennenlernen, wenn wir ihre kennenlernen und sie respektieren.“ Doch offensichtlich gibt es immer jemanden, der diese Situationen ausnutzt. So in San Giuseppe einerseits und auch in Canicattì, wo es vorkommt, dass Migranten als unterbezahlte Arbeiter auf den Feldern ausgenutzt werden. Das ist leider die Geschichte in unserem System, von europäischen Kräften kreiert, aber außerhalb der Kontrolle der Einrichtungsverwaltungen.

Allberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus

*CAS - Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum
**IPAB - Istituto pubblico di assistenza e benessere, italienische öffentliche Einrichtung der Wohlfahrt und Unterstützung 

Aus dem Italienischen übersetzt von Viktoria Langer