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Donnerstag, 31. Dezember 2015

Zum Glück ist das Jahr 2015 zu Ende

Die Zahlen von 2015 sind furchtbar, sie erinnern an Morde, an tägliche Katastrophen ohne Unterbrechung, die von einer Politik geschürt werden, die ihren Kurs nicht mal vor dem Hintergrund rassistischen Abdriftens und Kindestoden korrigiert.


931 - 237 - 150 - 200 - 73, das sind nur die jüngsten Zahlen der Angekommenen, der Minderjährigen, der marokkanischen Staatsbürger*innen, der im neuen Hotspot in Trapani festgehaltenen Geflüchteten und derer, die tagelang in Agrigento protestiert haben.
Zahlen und Tatsachen, die offenbaren, dass 2015 genauso endet wie es angefangen hat: im totalen Chaos, in der Gleichgültigkeit der Institutionen und im Eingreifen der Freiwilligen und Aktivist*innen, die es dem System noch erlauben, auf den Beinen zu bleiben und nicht zu implodieren.

Um bei den Tagesereignissen zu bleiben: am Montag, den 28. Dezember, hat die Siem Pilot in Palermo angelegt, mit 931 Geflüchteten unterschiedlicher Herkunft. Im Hafen wird allerseits der übliche gute Wille und Verfügbarkeit inszeniert, die allgemeine Mühe, die jedoch dieses Mal nicht ausgereicht hat, aufgrund der Anzahl Minderjähriger und maghrebinischer Bürger*innen, welche die erwarteten Mengen überstiegen hat. All das hat das gesamte Getriebe zum Stillstand gebracht.

237 Minderjährige mussten zunächst im Hafen und dann bis in die späten Nachtstunden auf dem Polizeipräsidium bleiben: nur die Ankunft hat für sie ca. 12 Stunden gedauert. Eine Folge der neuen Anordnungen, die vorsehen, dass Minderjährige vor dem Transfer in passende Einrichtungen direkt nach ihrer Ankunft ins Polizeipräsidium müssen, um ein Foto für die Akte schießen zu lassen und um ihre digitalen Fingerabdrücke abzugeben. Natürlich viel Arbeit für die vier Mitarbeiter*innen der Spurensicherung, da neben den Minderjährigen auch 200 marokkanische Bürger*innen anwesend waren, die nach stundenlangem Warten erst im Morgengrauen des folgenden Tages fotografiert wurden, und ihre gesamte erste Nacht in Italien in einem behelfsmäßigen Lokal im Hafen verbringen mussten, ohne jede Möglichkeit wieder zu Kräften zu kommen oder sich auszuruhen. Nur ein kalter Fußboden für sie, die ja im Grunde "keinerlei Rechte haben, in Italien zu sein!".
Um den Forderungen eines tauben und blinden Europas nachzukommen sind das totale Chaos und anstrengende Arbeitsbedingungen für die Beamt*innen des Ordnungsamtes und der Polizei notwendig. Die Schwächsten (die Minderjährigen) und die Ungewollten (die Maghrebiner*innen) bezahlen dafür.

In Palermo wurde, wie es auch schon in anderen Fällen vorgekommen ist, für die Minderjährigen kein Platz in den Einrichtungen gefunden und so haben die Stadt und das Ordnungsamt die Caritas gebeten, sich um diese zu kümmern, in Räumen, die für die Aufnahme von Minderjährigen ungeeignet sind. Das Ergebnis? Ein Notasyl für ungefähr 160 Minderjährige, welche die Stadt so schnell wie möglich umverteilen muss (wir hegen große Zweifel daran, dass sie das in einem kurzen Zeitraum schaffen wird).

In Situationen wie dieser erwarten wir, dass Save The Children von den Bedingungen der jungen Migrant*innen berichtet und den Mut dazu hat, etwaigen Missbrauch und Rechtsverletzungen anzuzeigen.

Für die maghrebinischen Bürger*innen ist hingegen nach 24 Stunden "Nicht-Aufnahme" das Verhängnis der Abschiebung eingetroffen, die "Seven Days". Von der Polizei freigelassen, haben 150 Menschen im Laufe des 29. Dezembers versucht, den Hauptbahnhof in Palermo zu erreichen und nach Rom zu reisen: ohne Geld und völlig mittellos haben sie sich vergebens auf dem Bahnsteig gedrängt, da die Eisenbahnpolizei sie davon abgehalten hat, ohne Fahrkarte in die Züge zu steigen, und somit dazu zwang, den ganzen Tag dort zu kampieren. 150 Maghrebiner*innen, die vom Gesetz unsichtbar gemacht und schlimmer als Hunde behandelt werden. Die Polizei hat die Befehle Europas befolgt, zu denen Minister Alfano die Polizeipräsidien aufgefordert hat. Die Polizei interessiert sich nicht für die sozialen Probleme, die daraus entstehen, wenn Hunderte von Menschen ohne Unterstützung auf der Straße landen. Die Stadt, die sich schon mit dem Ärger um die Minderjährigen abgeben muss, kümmert sich nicht um die Menschen aus dem Maghreb. Und so, wie immer in diesen Fällen, helfen Freiwillige, die gemeinsam mit dem Ausländerbeirat Probleme gelöst und es mit viel Mühe geschafft haben, die Konsulate von Marokko und Tunesien einzubinden, die einen großen Anteil des Fahrkartenpreises und Essensgeld bezahlt haben, unterstützt von der Caritas.
Wenn in Palermo das Jahr schlecht zu Ende gegangen ist, so ist in Trapani die Situation mit einem weiteren Hotspot, der vor einer Woche eingeweiht wurde und dessen Funktionsweise vor allem den Mitarbeiter*innen nicht klar erscheint, nicht besser! Trapani hat 129 Migrant*innen beherbergt, die in der Stadt des Salzes ankamen und nach der Identifikation in Einrichtungen in den Norden versetzt wurden, und 200 aus Palermo übernommene Migrant*innen. Für Letztere laufen die Identifizierungsvorgänge noch, bisher wurden keine Abschiebungen durchgeführt, nur Versetzungen in den Norden. Wir fragen uns, warum der Hotspot in Trapani keine Abschiebungen durchführt, anders als in Lampedusa, wo seit Anfang November 2015 mehr als 200 Abschiebungen stattgefunden haben.


Wir leben in einem System des totalen Chaos, für welches die Migrant*innen bezahlen. In Agrigento beispielsweise haben mehr als 50 Abgeschobene einen Protest vor den Räumen des Polizeipräsidiums initiiert, dort zwei Tage lang vor der Tür ausgeharrt, um mit lauten Stimmen darum zu bitten, dass ihnen die Möglichkeit gegeben wird, Asyl zu beantragen. Nach zwei Tagen wurden 73 Migrant*innen ins HUB von Villa Sikania (Siculiana) gebracht, mit dem Versprechen, dass sie Zugang zum Asylantragsverfahren erhalten. Eine Kehrtwende oder nur eine kurzfristige Antwort um Probleme mit der öffentlichen Ordnung zu umgehen?

Auch die betroffenen institutionellen Akteure, die jeden Tag auf dem Gebiet arbeiten (Beamte von Polizei und Ordnungsamt) geben mit leiser Stimme zu, dass das System reformiert werden muss: klare Regeln für alle und Achtsamkeit für den Einzelnen.
Die Eritreer, die in Lampedusa protestiert haben, wurden dort zurückgelassen, zwischen Chaos und Verschweigen, wahrscheinlich in der Überzeugung, dass sie resignieren und ihre digitalen Fingerabdrücke abgeben werden.

Missbrauch, Diskriminierung, ein mangelhaftes Aufnahmesystem, Verhandlungen über Rechte haben unsere Berichte und unsere Anzeigen im Jahr 2015 gefüllt. Nun, wir hoffen, dass der Wind sich dreht, dass der gesunde Menschenverstand und der Rechtsstaat zurückkehren werden und dass 2016 für alle Frauen und Männer, die Leben und Freiheit suchen, anders wird.
Das sind unsere Wünsche für 2016, wir, die weiter die Hoffnung behalten wollen!

Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus  

Übersetzung aus dem Italienischen von Alina Dafne Maggiore