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Montag, 28. November 2016

Das sind doch keine Menschen, sondern Marokkaner*innen!

Wir haben uns ein bisschen Zeit genommen, um davon zu berichten, was in Palermo vor drei Wochen passiert ist. Damals brachte das Schiff „Dattilo“ der italienischen Küstenwache 1048 Flüchtende nach Palermo. Wir haben uns ein bisschen Zeit genommen, um die systematischen, menschenunwürdigen Zustände zu beschreiben, die tägliche Rechtsbrüche darstellen. Und wir haben uns ein bisschen Zeit genommen, um an jene zu erinnern, die in Italien und Europa weniger als Tiere gelten. Sie sollen durch diesen Artikel ein wenig Erleichterung aus ihrer täglichen Qual finden. Wir nehmen Bezug auf einen anonymen Brief, der uns erreicht hat. Er stammt von einem freiwilligen Helfer, der am Hafen zugegen war.



“Leider ist das ausgerechnet in Palermo passiert, in der Stadt, die ich die meine nenne. Das tut noch mehr weh, als wenn es woanders passiert wäre. Weil jeder von uns immer denkt, dass er besser und gutmütiger ist als andere. Unsere Stadtverwaltung glaubt von sich, die erste europäische Stadt zu sein, die eine Willkommenskultur bietet. Aber bei der Landeoperation am 7. November 2016 hat sie genau das Gegenteil bewiesen. Die Stadt Palermo und alle anderen verantwortlichen Stellen wie das Polizeipräsidium, die Präfektur und die ASP* haben alle Maßnahmen aufgewendet, die wir als unmenschlich bezeichnen.“

Der Landevorgang hat alle in Mitleidenschaft gezogen, die daran beteiligt waren: Die Geflüchteten zuallererst, die 40 Stunden warten mussten, bis sie an Land gehen konnten. Die Schiffsbesatzung, die zwei Tage im Hafen bleiben musste. Die Polizei, die ständig vermeintlich „gefährliche Menschen“ bewachen musste, die andernfalls geflohen wären. Nicht zuletzt die Ärzt*innen, die sich abwechseln mussten, sowie die freiwilligen Helfer*innen, die die Zeit nicht mehr kennen und sich selbst ausbeuten. Alle sind Opfer eines Systems, das nicht funktioniert. Wären diese Menschen nicht da, würde es von alleine implodieren.

Eine Stadt, die sich sonst als gastfreundlich gibt, hat dieses Mal noch nicht einmal die Leichname empfangen. Wenn Leichen gebracht werden, zieht das viel Aufmerksamkeit auf sich: von der Bürgerschaft zum Bürgermeister, vom Bischof zu den Journalist*innen, vom Fernsehen bis zu den Stadträt*innen. Aber diesmal waren die Leichname nicht angekündigt, sodass es keine Zeit gab, den Kai vorzubereiten. Die Stadt war noch nicht mal darauf vorbereitet, den Opfern eine würdige Ankunft zu geben. Zwischen den Toten waren zwei Kleinkinder, die wir auf See getötet haben. Wir haben unsere Gesetze geopfert und unsere Gleichgültigkeit bewiesen.

Nur ein einziger Pfarrer, der oft am Hafen zugegen ist, hat die Leichen umarmt, für einen kurzen Moment.

Diesmal aber sind wir zu weit gegangen, denn die Verantwortlichen haben keinerlei Hilfestellung am Hafen gegeben, weder physische noch psychische Unterstützung. Die Organisationen, die sich ansonsten darum kümmern, waren nicht da, obwohl sie auch sonst keine leichte Arbeit haben. Der Mutter, die zwei Kinder verloren hatte, wurde keine besondere Aufmerksamkeit zuteil, vielmehr wurde sie ihrem eigenen Schicksal überlassen, ohne dass sie das Ziel ihrer Reise erfahren kann.

Wir sind sogar weiter gegangen: Zwei Kinder aus der Elfenbeinküste von einem und vier Jahren, die ihre Mutter auf der Reise verloren haben, wurden nach einer ärztlichen Untersuchung sofort und ohne gesonderte Betreuung zu einem Auffanglager für besonders junge unbegleitete Minderjährige geschickt. Wenigstens kam es nicht dazu, dass sich Journalist*innen von Fernsehen und Zeitung auf sie gestürzt haben, wie es sonst im Medienzirkus passiert. Eine Verantwortliche der ASP hat sich wenigstens darum gekümmert, dass die Kinder in ihren Persönlichkeitsrechten geschützt werden.

Der Ladevorgang war besonders anstrengend, denn die Passagiere des Schiffs „Dattilo“ waren schon drei Tage und zwei Nächte auf See gewesen und daher schon sehr gefordert. Sogar die Besatzung war gereizt, man konnte die Anspannung förmlich spüren. Ein Grund dafür war sicherlich die fehlende Organisation und Anleitung durch das Land und das Polizeipräsidium, dessen Zuständigkeit immernoch ungeklärt ist und die Angelegenheit erschwert, zu Lasten derer, die ankommen.

Die Menschen, die das Schiff verlassen haben, waren spärlich gekleidet, ihre Kleidung war nass. Aber in solchen Gelegenheiten zählt nur, schnell die Schlepper*innen und die Zeug*innen auszumachen. Die Besatzung des „Dattilo“ hatte bereits die Schlepper*innen erkannt (unter ihnen ein 17-Jähriger), während die Polizei die Zeug*innen gesucht hat.


Die Widersprüchlichkeit hat sich am Nachmittag des 7. Novembers gezeigt, als der Kapitän 50 Marokkaner*innen befohlen hat, das Schiff zu verlassen, weil sie sich über Kälte und Nässe beklagt hatten. Sobald die Polizist*innen erkannt haben, welche Nationalität diejenigen hatten, die das Schiff vorzeitig verlassen haben, entbrannte ein Streit zwischen ihnen und dem Kapitän, dazwischen die Ärzt*innen des ASP. Niemand wollte sich der Marokkaner*innen annehmen, die von allen als Tiere empfunden werden, die zu allem fähig sind, als seien sie unkontrollierbare Menschen. Der Kapitän hatte Angst vor Unruhe auf dem Schiff, die Polizei wollten aber, dass sie auf dem Schiff bleiben, weil sie nur 10 Mann hatten, um die Lage zu kontrollieren. Die ASP war unfähig, Position zu beziehen, obwohl die Wahl gewesen wäre, sie entweder mit nasser Kleidung auf dem Boden schlafen zu lassen, oder sie auf dem Schiff ohne ärztliche Kontrolle zurückzulassen. Der Kapitän war empört darüber, dass niemand von der Ankunft wusste im Hafen von Palermo. Wer sollte nun die Verantwortung für weitere Tote übernehmen, wenn man sie im prasselnden Regen stehen lassen sollte? Es gab keinen überdachten Bereich, wo man sie hätte ausharren lassen können. Währenddessen verschlechterte sich das Wetter. Niemand hat daran gedacht, ein würdiges Empfangen zu gewährleisten. Von wegen erste Stadt in Europa.

Nachdem das Spektakel vorüber war, wurden die Marokkaner*innen, die für Gewalttätige und Kriminelle gehalten wurden (unter ihnen waren auch Frauen), gezwungen, das Schiff wieder zu besteigen. Dem Kapitän ist es indes gelungen, sie gegen andere 100 Geflüchtete einzutauschen, die vom Schiff heruntergestiegen sind, um mehr Platz zu machen. Diese Marokkaner*innen haben mit Geduld ertragen, dass ihre Ankunft weder geplant noch ihrer würdig war.

Wir haben auch vernommen, dass das Militär an Bord sehr gewaltsam die Streitereien aufgelöst hat, die sich bei den Passagieren entwickelt hatte. Die Spuren an ihren Körpern, die Hiebe oder Stöße hinterlassen haben, könnten sowohl vom Militär, aber auch von Angriffen in Libyen herrühren. Das bestätigt dieses deprimierende Bild. Ich frage mich manchmal, ob es nicht besser wäre, diese Menschen auf See zurückzulassen, statt sie wie geschehen aufzunehmen. Wenn wir sie eh nicht möchten, können wir auch besser schlafen.

Wir Ehrenamtlichen mussten uns durchsetzen, damit wir ihnen Decken und Nahrungsmittel auf das Schiff bringen konnten. Wir mussten die Mauer der Gleichgültigkeit von manchen Polizist*innen durchbrechen. Andere Poliziste*innen haben uns geholfen. Die Haltung entspricht folgendem: Sie sollen froh sein, dass sie nicht auf dem Meer krepiert sind. Also sollen sie dankbar sein.

Wir Ehrenamtlichen mussten dann Zeug*innen werden von einer ärztlichen Behandlung seitens des ASP, die kühler und distanzierter nicht hätte sein können. Hektisch werden die Geflüchteten durchgereicht und abgefertigt. Hier handeln Ärzte, die man nicht oft im Hafen zu Gesicht bekommt. Vielleicht eilen sie nur so von Patienten zu Patienten, weil es politisch so gewollt ist. Denn das Italienische Rote Kreuz und andere Institutionen haben längst klare Positionen bezogen und sich geweigert, Menschen zu verarzten, wenn andere währenddessen im Leid warten müssen. Der ASP hingegen schweigt.

Schweigen das wir leider nicht von den Agent*innen von Frontex (Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache) vernommen haben, welche immer aggressiver und immer lauter, immer präsenter werden . Obwohl sie eigentlich die Registrierungsstelle besetzen, um die Voridentifikation zu betreiben, sehen sie nicht davon ab, die Ankommenden zu befragen, während sie sich gerade umziehen. Skrupellos wird den Geflüchteten noch nicht einmal ein Moment zum Durchatmen gegeben. Wir Ehrenamtlichen versuchen die Agent*innen daran zu erinnern, dass sie sich erbarmen sollen und wenigstens einen kurzen Augenblick Abstand nehmen sollen. Frontex ist überall und verhindert auch die Arbeit jener, die die Geflüchteten über ihre Grundrechte informieren wollen. Es kommt vor, dass Agent*innen Geflüchteten vereinzelt vernehmen, bis sie vor Ermüdung und Hunger zusammenklappen. Während der Befragung essen die Agent*innen selbst gerne was und ruhen sich offensichtlich aus.

Die Nach vom 7. November was auch deshalb so schlimm, weil es kalt war und regnete. Der Ladungssteg war voller Pfützen. Die Stadt Palermo kümmerte sich nicht darum, dass unbegleitete Minderjährige die Nacht auf dem Ladungssteg verbringen sollten. Durch Zufall hat sich die eiserne Humanität der NGOs durchgesetzt, sodass die Jugendlichen wenigstens im Bus übernachten durften.


Wir fragen uns selbst, wir fragen auch den Bürgermeister unserer Stadt (der abwesend war) und den Bischof (der unbeeindruckt vom Geschehen war, statt an diejenigen zu appellieren, die die Macht haben, etwas zu ändern): Warum werden keinerlei Vorkehrungen getroffen, damit es den Menschen besser geht, oder wenigstens um die Strapazen ein wenig zu mindern? Wo bleiben die Zelte oder die Busse, um die Menschen in Sicherheit zu bringen?

Der Ausgang dieser Ausschiffung wiederholte sich noch einmal am nächsten Tag, als 250 unsagbar gefährliche Marokkaner*innen abgeschoben wurden. Es geschah in kleinen Gruppen und nachts, damit niemand es merkte. In der Nacht vom 8. November hat die Stadt Palermo bis zum Morgengrauen durchgängig Zurückweisungen an Geflüchtete verteilt, besonders Schutzbedürftige, Frauen, Minderjährige oder Männer, die Angehörige in Libyen verloren haben. Der Bahnhof von Palermo war am frühen Morgen voll von Marokkaner*innen, unter ihnen auch fünf Libyer*innen. Wer ein wenig Geld in der Tasche hatte, fuhr los. Wer nicht, blieb auf die ehrenamtliche Hilfe angewiesen, die vor Ort war. Um ehrlich zu sein, hat nur der Vorsitzende der Caritas, nachdem man ihn kontaktiert hatte, angeboten, etwas zu Essen zuzubereiten.


Wir haben die Jugendlichen zum Zentrum „Astalli“ gebracht, damit sie sich duschen und sich umziehen können. Wir haben ihnen zu Essen gegeben, aber auch Auskunft. Manche kannten die Entfernung zwischen Palermo und Paris nicht, um nur ein Beispiel zu nennen. Diese Menschen werden unsichtbar, obwohl sie sich in unserem Land befinden. Und sie sind leichte Beute für diejenigen, die sie ausnutzen wollen.

Unter ihnen sind drei Männer, dessen Frauen schon zum CIE nach Rom gebracht worden sind. Ihnen wurde von Frontex vorgelogen, dass ihre Frauen über Nacht im Büro schlafen, damit sie nicht in der Kälte übernachten müssen, und stattdessen weggeschafft worden sind. Die drei Männer, zwei Marokkaner und ein Libyer, sollten sie angeblich am nächsten Morgen abholen können. Tatsächlich aber ließ man sie nicht hinein, man sagte ihnen, dass sie in Rom seien. Erst später stellte sich heraus, dass mit „Rom“ die Ponte Galeria a Roma gemeint war, ein Auffangzentrum. Wir wissen ja bereits, dass es politisch gewollt ist, Familien auseinander zu reißen.

Nach zwei langen Tagen des Wartens ist es den Geflüchteten gelungen, wegzufahren. Es ist eine moderne Form von Sklaven, die wir nach Belieben ausbeuten können. Für die, die geblieben sind, bleibt keine milde Behandlung. Auf dem Foto ist zu sehen, wie diejenigen behandelt werden, die gerade aus Krankenhäusern entlassen werden. Ein Junge wurde mit einem erkennbaren Loch im Sprunggelenk und hohem Fieber entlassen. Ich halte dieses Verhalten für strafbar. Ein Arzt, der denkt, dass jeder, der nicht auf hoher See ist, sich glücklich schätzen und nichts weiter einfordern dürfte, unterscheidet sich nicht von jenen die denken, dass im Grunde Marokkaner*innen keine Menschen sind.


Wir danken dem oder der Ehrenamtlichen, die uns dieses Protokoll hat zukommen lassen. Wir betonen nochmal, dass die Schwierigkeiten auch an Land fortexistieren: Unbegleitete Minderjährige müssen ohne Geschlechtertrennung in überfüllten Lagern warten, werden als Ware gehandelt (dieser Fall wurde schon „Save the Children“ gemeldet). In anderen Lagern weigert sich die Aufnahmeleitung, mit den Geflüchteten zu sprechen. Nicht nur im Lager Saturu, sondern auch in Piana degli Albanesi, beides in Palermo, weigern sich die Lagerleitung, den Geflüchteten das Taschengeld auszubezahlen, auf das sie einen Anspruch haben.


Der Winter ist da und die Menschen fliehen vor so einer unwürdigen Aufnahme in unserem Land.

Redaktion Borderline Sicilia

ASP*- Azienda Sanitarie Provinciali Gesundheitssystem der Provinz Sizilien

Aus dem Italienischen von Alma Maggiore