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Sonntag, 1. Januar 2017

Verlieren wir die Hoffnung nicht, und auch nicht die Kraft, da zu sein

2016 ist vorbei und beim Lesen einiger Berichte des eben vergangenen Jahres habe bin ich auf den letzten Bericht von 2015 gestoßen. Er trug den Titel: „Zum Glück ist 2015 vorbei“. Wir können diesen Titel nicht noch einmal benutzen, indem wir nur das Datum ändern, denn 2016 war noch todbringender, die Dynamiken haben sich wiederholt und sind sogar noch gewaltvoller als 2015 geworden. 
Die Zahlen der täglichen Blutbäder sind furchtbar, die offiziellen Statistiken berichten von mehr als 5000 Toten, nie zuvor wurde auf dem Meer so viel gestorben wie in diesem Jahr. Diese Zahlen werden noch nicht einmal all jenen Toten gerecht, zu denen wir vor oder nach der Überquerung des Meeres beitragen.
Diese Zahlen scheinen wie eine Verurteilung all jener, die am Ende ihrer Kräfte sind und bisher keinen Waffenstillstand erlebten; und was machen unsere Politiker*innen?


Sie haben in ihrem Rechtsdrift nicht einmal Halt gemacht im Anbetracht toter Kinder und der unzähligen Unsichtbaren, die mit den Grenzschließungspolitiken Europas geschaffen wurden. Noch nie zuvor wurden Mauern dieser Art geschaffen, noch nichtmal im Rahmen der Weltkriege, unsere arme Welt hat diese Grenzschließungen erlebt, so viele Kriege wie noch nie, so viel Zerstörung, so viel Anstreben einer Hegemonie, Machtdurst und Egoismus wie noch nie. 
Wenn wir darauf hoffen, dass die Führungselite wirklich anders entscheiden kann, als sie es bisher tut, sind wir armselige Illusionierte, weshalb wir die Hoffnung nicht verlieren dürfen und weiterhin Kraft dafür finden müssen, auf die Bedürfnisse derer zu achten, die ausgenutzt werden, lächerlich gemacht und täglich durch Waffen getötet, durch Mauern, durch Politik, durch den Willen, die gesamte Welt zu erobern, indem man entscheidet, wer etwas wert ist und wer nicht, wen am Leben halten und wen dem Gott der Macht zu opfern. 

Das Jahr 2016 hinterlässt eine enorme Leere in uns, viel Verbitterung und Wut. Soviel, dass wir die Pflicht haben, alles in eine positivere Richtung zu drehen und Bedingungen für eine gerechtere Welt zu schaffen. Eine Welt, in der alle das Recht haben, über das eigene Schicksal zu bestimmen, eine utopische Welt bisher, aber eben eine Welt, die viele gerne hätten. Deshalb dürfen wir nicht die Hoffnung verlieren, deshalb dürfen wir uns der Schärfe der täglichen politischen Geschehnisse nicht ergeben. Politik, die nicht mehr richtig ist, der nicht mehr zu folgen ist, eine Politik, die nicht mehr das Allgemeinwohl sucht und die deshalb auch nicht mehr von den Menschen akzeptiert werden kann, die Mauern einreißen und Grenzen öffnen wollen. 

Uns erwartet kein einfaches Jahr 2017 und aus den jüngsten Zügen des neuen Innenministers Minniti und des Polizeichefs Gabrielli versteht sich, dass sie auf den letzten Tag des Jahres gewartet haben, um zu verkünden, dass zahlreiche CIE* wieder geöffnet werden (zumindest eines pro Region), um außerordentliche Kontrollen durchzuführen und die zu identifizieren und abzuweisen, die nicht das Recht haben, in Italien zu bleiben. 

Dieses unmenschliche Rundschreiben, das eben am letzten Tag des Jahres veröffentlicht wurde, bestätigt, dass es ein furchtbares Jahr war, was Rechte anbelangt, und was uns erwartet wird daher kein Jahr sein, in dem man einen Kurswechsel für Migrant*innen vornimmt, sondern in dem es noch schwieriger sein wird, Frieden und Freiheit zu bewahren. Die politische Richtung ist klar und zeigt alle Unfähigkeit, einen alternativen Plan zu haben. Die Politiker*innen und die europäische Führungselite haben einen Teil der Welt unter Wert verkauft und somit Millionen Menschenleben geopfert. Es ist eine Politik, die denkt, Migrationsprozesse mit Polizeiaktionen, mit Repressionen, mit Gewalt, mit Morden in unseren Meeren oder außerhalb unserer europäischen Grenzen beordert, handhaben zu können. 

Man will also wieder CIE öffnen, weil die EU immer weiter drängt, weil das Hotspot-System erneut seine Ineffizienz zeigt, seine Nutzlosigkeit, weil wir während des gesamten Jahres 2016 gesehen haben, wie viele Menschen unsichtbar werden, weil nie eine ernsthafte Integrationspolitik geschaffen wurde und nie an den sozialen Zusammenhalt in den Regionen gedacht hat, ans Ausschließen hingegen schon. 
Wir erinnern uns an die Hotspots von 2016; unnütze Strukturen, ja, die Hotspots sind unnütz, die haben nicht funktioniert, das System hat versagt und kann nur zu seinen alten und kranken Gewohnheiten zurückkehren: Migrant*innen in ethnische Gefängnisse einsperren, die in der Vergangenheit bereits viel Gewalt und Tote gefordert haben. 
Nicht nur dafür, sondern auch wegen seiner Grausamkeit gegen Kinder wird 2016 in Erinnerung bleiben, es reicht schon, die Bilder anzusehen, die in den Social Media herumschwirren, aber auch wegen aller Minderjährigen, die in Vergessenheit geendet sind und nicht mehr auffindbar in Italien. Es sind hohe Zahlen, die das Versagen dieses Systems, sowie seine Unmenschlichkeit bestätigen. Diese Jahr war auch schlimm für all die Minderjährigen, die immer mehr von allen Institutionen vernachlässigt werden, zusammengepfercht in überfüllten Zentren und ohne Geld von den Kommunen. Mangel an Vormündern, sehr lange Aufenthaltszeiten, unbegleitete Minderjährige in CAS* für Erwachsene überall in Italien und unendlich viel Gewalt und Missbrauch, vor allem psychologischer Natur. 

Wir haben keine Alternativen, wir müssen die Aufmerksamkeit aufrecht erhalten, wir müssen die Gründe zu Leben wertvoll machen, wir müssen dazu in der Lage sein, uns gegenseitig zu konfrontieren und nicht nur das; ich denke dabei an viele humanitären Organisationen, die zwischen den vielen Projekten verloren gehen und somit das Interesse für die Person aus dem Blick verlieren, für den*die Migrant*in, für den*die Bedürftige*n, und somit beim gewaltsamen und korrupten Spiel des politischen Systems mitmachen. 

2015 und noch mehr 2016 haben unsere Berichte mit Ausdrücken wie Missbrauch, Diskriminierung, fehlende Aufnahme, keine Rechte gefüllt, und deshalb bekräftigen wir das jetzt und wünschen uns, dass sich der Wind ändert, dass der gesunde Menschenverstand wiederkehrt und, dass 2017 besser wird für unsere Schwestern und Brüder, die Leben und Freiheit suchen. Aber wir müssen das  auf eine Art und Weise machen, die den Wind ändern lässt und dabei dürfen wir nie den Blick nach oben verlieren, genau wie es eine gute Freundin stets beibehält, die jeden Tag weiter in Veränderung hofft, den Migrant*innen nah bleibt, die mit Einfachheit ihren Kampf gegen ein System weiterführt, das sie nicht akzeptiert, weil es gegen das Leben ist: „ Was auch immer ich mache, die Menschen müssen an erster Stelle stehen und ich darf nie den Blick auf sie verlieren“. 
Das ist unser Vorsatz für 2017, wir dürfen nie die Hoffnung aufgeben. 

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*CAS : außerordentliches Aufnahmezentrum
*CIE : Zentrum zur Identifizierung und Abschiebung


Übersetzung aus dem Italienischen von Sophia Bäurle