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Donnerstag, 16. März 2017

Von der Erstaufnahme nach Mineo. Was erwartet die Neu-Volljährigen?

„Die Dinge werden besser laufen, da sie mich in Kürze verlegen.“ A. kommt aus Ghana und ist 18 Jahre und einige Monate alt. Seit einem Jahr lebt er in einem der großen Erstaufnahmelager für unbegleitete Minderjährige in der Gegend von Catania, dessen Namen wir nicht nennen sollen. Hier sind wir ihm im vergangenen Juni begegnet. Damals hatte er sich ganz anders präsentiert als heute. Es war ein Jahr der Unduldsamkeit, der Verständnislosigkeit, der Dialogversuche und der kleinen Errungenschaften. Eine davon war die Einschreibung in die Schule, für die A., zusammen mit weiteren zehn Jugendlichen des Zentrums, von Anfang an gekämpft hat. Anlässlich eines dieser „Proteste“ in Form von Briefen, die er an Verantwortliche und Verwalter geschickt hat, sind wir ihm begegnet.

Das CARA* von Mineo

„Seit vier Monaten haben sie uns die Schule versprochen, aber wir warten noch immer darauf, nicht eine Italienischstunde“, erzählten sie uns. Und weiter: „Es gibt nur wenig zu essen, die Kleidung ist knapp und wir sind besorgt, weil, wenn einer von uns krank ist, kommt nie ein Arzt, nur für die allerschwersten Fälle, die sofort mit dem Krankenwagen im Krankenhaus enden. Und der Tutor? Die meisten von uns wissen nicht einmal, was das ist.“

Heute legt A. Berufung ein gegen den abschlägigen Bescheid auf Bewilligung des internationalen Schutzes durch die Gebietskommission; seine Anwältin spricht kein Englisch, aber er sagt, dass es ihnen gelingt, sich zu verständigen, auch wenn sie sich erst wenige Male gesehen haben. Ihr konnte er endlich von seiner Flucht erzählen; in der Anhörung vor der Kommission hatte er keine Gelegenheit, sich zu erklären. Wie er, sagen uns viele andere Personen, dass sie einen Rechtsbeistand, der diesen Namen verdient, nur in der Zeit der Berufung gehabt haben und nicht von Anfang an, wie vom Gesetz vorgesehen.

Sein Zentrum beherbergt im Durchschnitt 60 junge Leute, darunter viele Neu-Volljährige, mit Spitzenwerten von 80% dieser Personen; etliche von ihnen setzen sich nach wenigen Tagen alleine ab. A. besucht die Schule des Ortes und erzählt uns enthusiastisch von der bevorstehenden Prüfung für den mittleren Abschluss: „Das Diplom ist die Grundlage, dann möchte ich mich für einen Informatikkurs einschreiben. Ich übe schon mit Hilfe eines Mitarbeiters und seines PC. Mir haben sie gesagt, dass ich bald verlegt werde, bestimmt in ein SPRAR*, und ich weiß, dass dort alles einfacher sein wird.“

Nach einer Aufenthaltsdauer in einem Zentrum dieser Art, die entschieden über die dafür vorgesehene Zeit hinausgeht, gelingt es A. am Ende vielleicht, in eine Einrichtung der zweiten Aufnahme zu gelangen, in der er schon längst hätte angekommen sein sollen. Aber die illegitimen Praktiken scheinen niemals ein Ende zu nehmen und sie kehren zurück und kennzeichnen seinen Weg: Wenige Stunden nach unserer Begegnung sagt uns A., dass er anderentags gemeinsam mit anderen Gefährten in das CARA* von Mineo verlegt wird.

In den letzten Monaten haben wir hunderte von Fällen wie den von A. kennengelernt: Gerade Erwachsengewordene, die für Monate, wenn nicht für Jahre in Erstaufnahmeeinrichtungen oder Wohngemeinschaften für Minderjährige bleiben, werden dann in großer Zahl, mit einer Vorlaufzeit von oft nur wenigen Stunden, ins CARA* von Mineo verlegt. Von einer Erstaufnahmeeinrichtung in ein anderes, ähnliches Zentrum und folglich, weil es sich immer um Erstaufnahme handelt oder es zumindest so sein müsste, mit Erlaubnis der Gesetze und der Richtlinien, die ständig mit Füßen getreten werden.

Die „außerordentlichen Maßnahmen der Aufnahme für minderjährige unbegleitete Ausländer“, vorgesehen von dem Gesetz zur Umwandlung der Verordnung Nr. 113 von 2016, kennzeichnen einen weiteren Rückschritt im Schutz des vorrangigen Interesses der Minderjährigen; auf diese Weise wird nämlich die Inbetriebnahme von vorübergehenden Aufnahmeeinrichtungen mit einer Kapazität von höchstens fünfzig Plätzen und Dienstleistungen, die unzweifelhaft unter den Standards liegen, die von internationalen Übereinkünften vorgesehen sind, legitimiert. Eine Entscheidung, die die Kommunen klar einschränkt, SPRARs* auf den Weg zu bringen, denn die Inbetriebnahme der Zentren ist an die Präfektur delegiert worden; und dies bietet den Kooperativen, die oft ohne Erfahrung und ohne Skrupel sind, neue Geschäftsmöglichkeiten. Im Verlauf weniger Monate haben sich die Einrichtungen zur „allerersten“ Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Ausländern schnell vermehrt; und sie wurden den schon für Erwachsene bestehenden CAS* ganz und gar ähnlich. Überbelegt, unzureichende grundlegende Dienste, fehlende Übersetzer*innen und fehlender, vom Gesetz vorgesehener Schutz, unzureichendes Personal, nicht bezahlt und oft unvorbereitet; dies ist die Situation in dutzenden von Einrichtungen, die wir bis jetzt kennengelernt haben.

Die Mitarbeiter*innen versuchen die Jugendlichen zu beruhigen, indem sie ihnen kurzfristige Verlegungen versprechen, deren Verzug sie dann nicht rechtfertigen können. Die große Anzahl der Anwesenden macht es extrem schwierig, Konflikte konstruktiv zu bearbeiten; und sie hindert sicherlich den Start für den Weg zur Inklusion in örtlichen Gemeinden, die oft isoliert liegen und klein sind. In der Zwischenzeit verlieren die Jugendlichen jedes Vertrauen und die Hoffnung, sich eine bessere Zukunft aufbauen zu können, ergreifen die erste mögliche Gelegenheit zur Flucht oder sie vermehren die Reihen der Ausgebeuteten auf dem Land, mit all den daran hängenden Folgen. Auch der, der widersteht und dem es gelingt, ein wenig Beschulung und Sozialisierung anzubahnen, sieht in der Gegend von Catania mit dem Erreichen der Volljährigkeit und seiner Verlegung an jenen symbolischen Ort des „Nicht-Schutzes“, dem CARA* von Mineo, seinen Weg unterbrochen.

Eine Einrichtung, in der es heute schon mehr als dreitausend registrierte Anwesende gibt und die den Raum, der den Asylsuchenden „zugedacht ist“, weiter einschränkt; denn vor einem Monat haben die Bauarbeiten für das begonnen, was offiziell einer der neuen sizilianischen Hotspots werden wird; dies wurde kürzlich von dem Polizeichef Gabrielli bekräftigt.

In Mineo leben gerade angelandete Migrant*innen zusammen mit Zeug*innen der Justiz, mit Geflüchteten, die seit Monaten auf ihre Verlegung in ein anderes Land warten, besonders Schutzbedürftigen, Abgelehnten, die aus anderen Zentren hierher geschickt worden sind und zahlreichen Personen auf der Durchreise. Wer hier überleben will, der muss täglich gegen die Folgen der Unterdrückung und der Gewalt kämpfen, die das Lagerleben beherrschen. Das Italienisch, die Arbeit, die Gesundheit und die Dokumente sind zweitrangige Fragen, die den Gesetzen des Falles und des Glücks folgen. Die Klagen, die wir von den Migrant*innen gesammelt haben, die in den letzten Jahren durch das CARA* gegangen sind, zerstören die heuchlerischen Reden der Politiker*innen und Betreiber, die das Zentrum als „Exzellenz des Willkommens“ darstellen. Hunderte von Flüchtlingen haben uns einen Zustand des absoluten Verlassenseins beschrieben, in dem sich nur die Stärksten oder Glücklichsten über Wasser halten können. Aber trotz dieser Zustände und obgleich die Untersuchungen über die Verwaltung des CARA noch andauern, überstellen die Präfekturen systematisch neue Migrant*innen nach Mineo und vergrößern die Einkünfte derer, die dort an der Spitze stehen. „Dieses Lager ist fünfzigmal größer als jenes, in dem ich zuerst war, aber hier habe ich den Eindruck, unsichtbar zu sein“, sagt A. „Mir scheint, dass ich alles von vorne beginnen muss.“

Es liegt an uns, ihm dabei zu helfen, dass er nicht in der großen Menge untergeht.

Lucia Borghi

Borderline Sicilia

*CARA - Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende

*SPRAR - Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Flüchtlinge dienen

*CAS - Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum

Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber