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Mittwoch, 4. Oktober 2017

Alcamo und Campobello di Mazara: Kein Ende der Ausbeutung auf sizilianischen Feldern in Sicht

Einige Wochen nach unserem letzten Besuch in Campobello sind wir wieder hier, um die jungen Menschen zu besuchen, die im provisorischen Lager von Erbe Bianche leben. Die Zeltstadt hat sich in der Zwischenzeit stark vergrößert: Mehr als 400 Personen halten sich nun hier auf, in Erwartung der bald beginnenden Olivenernte.


Campobello di Mazara (TP) - Das provisorische Lager von Erbe Bianche


Als wir am späten Nachmittag eintreffen, sind fast alle auf dem Feld. Viele haben Plastikflaschen mit Wasser dabei, die sie auch zum Putzen und Waschen benutzen. Vor zwei Jahren hat die Stadtverwaltung einen Brunnen zur Verfügung gestellt, um den Ort ein ganz klein wenig lebbarer zu machen. „Seit zwei Tagen kommt kein Tropfen mehr aus dem Hahn. Es ist der einzige den wir haben. Hier draußen gibt es sonst keinen – das ist ein großes Problem!“, erzählt uns ein junger Mann. „Ich habe nochmal versucht, eine Wohnung hier in Campobello zu mieten, obwohl ich wusste, dass das wenig Sinn hat. Entweder sagen sie dir sofort, dass nichts mehr frei ist, oder sie behaupten, dass die Wohnungen 500€ pro Monat kosten. In Wahrheit wollen sie uns ihre Wohnungen einfach nicht vermieten, weil wir schwarz sind.“

„Wann machen sie endlich das Lager „Ciao Ousmane“ auf?“, fragt uns ein Herr aus Tunesien. „Hier kann ich nicht bleiben. Ich bin vor einigen Tagen angekommen und schaut euch nur an, wie ich hier nächtigen muss!“. Er zeigt uns seinen Schlafsack, der zwischen zwei kleinen Baracken liegt. „Da ist es wenigstens ein bisschen windgeschützt, aber bald wird es kälter und härter. Mir war nicht klar, dass Campobello so ist. Was machen wir zum Beispiel, wenn einer von uns krank wird?“ Unser Gesprächspartner hat seinen Wohnsitz seit mehr als 27 Jahren in Italien, eigentlich lebt er in Padua. Er zeigt uns alle seine Dokumente – darunter befinden sich auch ein in Padua ausgestellter Führerschein und eine Aufenthaltsgenehmigung. „Mein Sohn erzählt mir jeden Tag, dass er nach Italien kommen will. Als ich ihm Fotos gezeigt habe, auf denen zu sehen war, wie wir hier leben, wollte er einfach nicht glauben, dass das wirklich Italien ist. Ich bin kurz davor, meine Sachen zu packen und zurück nach Padua zu gehen. Dort leben nicht mal die Hunde unter solchen Bedingungen.“ Der Mann ist Maurer. Seit Jahren versucht er, seine Familie nach Italien zu holen, aber die gesetzlichen Auflagen für die Familienzusammenführung sind seit jeher ein unüberwindbares Hindernis. „Du musst deine gesamten Kontoauszüge des vergangenen Jahres offenlegen und eine gewisse Summe verdienen. Dann kommen sie zu dir nach Hause und kontrollieren mit dem Zollstock, ob deine Wohnung auch groß genug ist und den Standards entspricht. Wenn irgendwo fünf Zentimeter fehlen, sagen sie dir, dass deine Wohnung zu klein ist, anstatt mal daran zu denken, dass es vielleicht wichtiger ist, dem Sohn die Chance zu geben, mit seinem Vater zusammenzuleben!“ Er sei hier, um endlich das nötige Geld für die Einreise seiner Familie zu verdienen. Die Gründe, aus denen all diese Menschen hier nach Erbe Bianche kommen und auf die Olivenernte warten, sind folglich sehr verschieden.

Eine andere Geschichte erzählt uns M., ein junger Mann aus dem Senegal, der seit zwei Jahren in Deutschland wohnt und arbeitet. Er musste zurück nach Italien fahren, um seine Aufenthaltserlaubnis zu erneuern. Nun wartet er bereits seit fünf Monaten und hat keine Ahnung, wie lange es noch dauern wird. Natürlich muss der junge Mann in der Zwischenzeit zusehen, wie er sich irgendwie über Wasser halten kann – und da kam es ihm ganz recht, als er von Campobello hörte. „Ich bin entsetzt über unsere Lage hier. Niemand interessiert sich für uns, das einzig Gute ist, dass wir im Innern des Lagers alle in derselben Situation sind und es keine Hierarchien gibt.“

„Herein, herein!“, winkt T. uns in seine Hütte. Eigentlich ist es sogar ein richtiges Häuschen, was der junge Mann sich da in weniger als zwei Tagen zusammengezimmert hat. Teppiche und bunte Holzplatten machen seine Behausung gastfreundlich, fast elegant. Neben zwei Betten gibt es ein Regal, einen Spiegel, einen kleinen Schrank und noch ein paar weitere Einrichtungsgegenstände. „Auch wenn sie in ein paar Wochen das Lager aufmachen: Zur alten Ölfabrik kriegen mich keine zehn Pferde. Das hätte überhaupt keinen Sinn, dort muss ich in einem elendigen Zelt auf dem harten Boden schlafen, und das Zelt muss ich mir auch noch selbst mitbringen. Hier hingegen habe ich ein schönes Haus“, erklärt T. und lacht.

Leider ist zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs klar, was mit denen geschehen wird, die noch kommen, denn auch im Jahr 2017 – also 15 Jahre nach der ersten von „unsichtbaren“ Einwanderern durchgeführten Ernte – gibt es noch keinen konkreten Plan dafür, wie man jene aufnehmen kann, die für unser Wohlbefinden, für unser Öl, für unsere Ernährung arbeiten.

Verschiedene Organisationen und Initiativen üben nach wie vor Druck auf die Politik aus, um endlich eine akzeptable Lösung zu finden, aber wenige Tage vor Beginn der Erne geht man noch seelenruhig davon aus, dass es genügen wird, 250 Personen die Außenflächen der ehemaligen Ölfabrik zur Verfügung zu stellen, in deren Innern sich heute ein SPRAR* befindet. 

Wir fragen wiederholt, wie man denn mit den mindestens 1000 Personen, die noch kommen werden, umzugehen gedenkt, – wiederholt erhalten wir keine Antwort. Wir befinden uns in einer Grauzone, wo sogar diejenigen, die ein Zelt oder eine verlassene Hütte finden und sich irgendwie einrichten, noch Gefahr laufen, sich von diesem oder jenem Olivenhainbesitzer ausbeuten zu lassen. Und der profitiert seinerseits weiterhin fröhlich von einer Politik, die solche Ausbeutung im Fall von vielen, vielen Unsichtbaren zulässt.

Leider müssen wir auch in diesem Jahr wieder damit rechnen, dass es zu einem Konflikt mit den (voll- und minderjährigen) Bewohner*innen der anliegenden Zentren kommen wird. Die lassen sich nämlich auf einen niedrigeren Lohn ein, schließlich können sie in ihren Unterkünften essen. Die aus Padua oder von anderswo Angereisten müssen auf jeden Fall mehr verdienen– so wird man ihnen im schlimmsten Fall wahrscheinlich sogar die Arbeit verweigern. Nicht zuletzt fällt uns auf, dass sich sehr viele junge Frauen, vor allem Nigerianerinnen, auf den nahegelegenen Straßen herumtreiben und den Ausbeutern ihre Dienste anbieten. Man hat sie hierhergelockt – in dieser Zeit steigt die Nachfrage.


Viele der in Campobello eintreffenden Arbeiter*innen kommen aus Alcamo, wo von Mitte August bis Ende September die Weinlese stattfindet. Für viele, denen wir in Campobello begegnen, ist dies eine weitere Etappe ihrer langen Reise auf der Suche nach Arbeit. Da es natürlich auch in Alcamo niemand unter den Arbeitgebern für nötig befindet, dem Gesetz zu entsprechen, demzufolge der Arbeitgeber für die Unterkunft seiner Arbeiter*innen verantwortlich ist, hat die Stadtverwaltung den jungen Erntehelfer*innen eine Turnhalle zur Verfügung gestellt. Dort können sie abends kostenfrei essen und duschen. Wer seinen Schlafsack auf einer der Gymnastikmatten ausrollen und in der Turnhalle übernachten möchte, muss zwei Euro pro Nacht bezahlen und sowohl eine Aufenthaltsgenehmigung als auch einen Arbeitsvertrag vorweisen. Diese Auflagen schließen natürlich bereits einen nicht unbeachtlichen Teil der Arbeiterschaft aus. „Glaubst du etwa, dass die in Alcamo mehr Arbeitsverträge ausstellen als hier in Campobello?“, fragt uns mit bitterem Lächeln ein junger Mann, dem wir im Lager von Erbe Bianche begegnen. Mit der Verwaltung der Turnhalle wurde die Sozialkooperative Badia Grande beauftragt, aber andere Träger wie das Rote Kreuz, die Caritas oder die Hilfsorganisation ANPAS sind ebenfalls am Projekt beteiligt. Die eingenommenen Gelder fließen dem Betreiber und zum Teil auch den Hilfsorganisationen zu, anstatt direkt in eine Verbesserung der Empfangssituation investiert zu werden.

Die Turnhalle ist weit entfernt von der Stelle, an der die Arbeitgeber ihre Sklaven „aufsammeln“ – wer hier übernachtet, muss folglich sehr früh aufstehen. Die ganze Saison über wollten insgesamt nur 55 Personen in der Turnhalle übernachten. Und all die anderen? Jene ohne Papiere und ohne Vertrag? Oder schlicht und einfach ohne die nötigen zwei Euro pro Tag? Wie in den vergangenen Jahren haben auch in diesem Sommer wieder Unzählige auf den Plätzen von Alcamo übernachtet, spärlich zugedeckt mit ein paar Pappplatten, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen.

Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die uns in die Tasche wirtschaften, uns, die wir weiterhin bequem unser Öl zu Niedrigstpreisen beziehen können. Die Preise müssten eigentlich rasant ansteigen, doch zum Glück gibt es ja die „unsichtbaren“ Einwanderer.

B., ein junger Mann aus Gambia, grüßt uns traurig zum Abschied: „Das hier ist nur eine weitere Etappe auf einem langen Weg. Als nächstes werde ich, wenn ich denn überlebe, nach Apulien gehen. Doch Jahr um Jahr wird es schlimmer werden, denn ich werde immer älter und kann diese Bedingungen immer weniger gut aushalten. Aber eine andere Möglichkeit habe ich nicht.“ Er begleitet uns zurück zum Auto und betont, klar, deutlich und mehrmals: „Ihr dürft uns nicht auch noch verlassen. Erzählt der Welt, dass diese Schande schon seit viel zu langer Zeit andauert.“

Verena Walther

Borderline Sicilia




*SPRAR - Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.


Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack